Memoiren und Gesprächsbände: Ein Papst und seine Geschichten
Für den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges ist das Paradies eine Art Bibliothek – umgeben von Büchern und den vielen Welten, die Leserinnen und Leser durch Literatur erleben. Ähnlich sieht es auch das amtierende Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus. Denn für ihn sind "Literatur und Kunst Leben", schreibt etwa der Jesuit Antonio Spadaro in einem Beitrag für die italienische Zeitung "La Repubblica" über das im Sommer erschienene Schreiben zur Bedeutung der Literatur in der Bildung. Der Brief des Papstes ist ein in vierundvierzig Fragmente gegliederter, zehn Seiten langer und in acht Sprachen veröffentlichter Aufsatz, in dem er darüber nachdenkt, was Literatur ist, warum Lesen wichtig ist und in welchem Verhältnis Poesie und Religion zueinanderstehen, um schließlich zu dem Schluss zu kommen, dass Dichter und Priester sich – mehr oder weniger – mit denselben Dingen beschäftigen.
Nicht wenige Beobachter haben es als Liebeserklärung an die Literatur bezeichnet. Der Papst kritisiert darin die "ernsthafte intellektuelle und spirituelle Verarmung der künftigen Priester", weil die Literatur in ihrer Ausbildung keinen angemessenen Platz einnehme. Zu denen, auf die sich Franziskus bezieht, gehören neben dem bereits erwähnten Borges auch T. S. Eliot, Marcel Proust und der Jesuit und zweifellos einer der größten und sprachgewandtesten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner. Franziskus' Essay endet mit einem Gedanken des jüdischen Lyrikers Paul Celan: "Wer wirklich sehen lernt, nähert sich dem Unsichtbaren."
Sich dem Unsichtbaren nähern: für Franziskus ist Literatur, Poesie und Kunst ein Weg dorthin. Dabei ist der Pontifex jedoch nicht nur wortgewaltig, er lebt es vor und liebt Literatur und Kunst. Spadaro beschreibt Franziskus als einen Menschen, für den Poesie und künstlerischer Ausdruck integraler Bestandteil seiner Spiritualität und Pastoral sind. Er selbst, Papst Franziskus, sei nicht nur ein Leser, sondern auch ein Erzähler. Das zeigt auch die Autobiografie "Spera" (deutsch: "Hoffe"), die kürzlich auf der Frankfurter Buchmesse angekündigt wurde. Sie soll Anfang Januar nächsten Jahres in 80 Ländern gleichzeitig erscheinen. Diese Autobiografie unterscheidet sich von der im März erschienenen dadurch, dass sie nicht nur aus den Aufzeichnungen mehrerer Gespräche besteht. Die Arbeit an dem neuen Buch hat der Pontifex gemeinsam mit Carlo Musso, dem ehemaligen Redaktionsleiter der Sachbuchsparte des ältesten mailändischen Verlagshauses Sperling & Kupfer, noch im März 2019 begonnen und erst kürzlich abgeschlossen. Ursprünglich sei die Veröffentlichung auf Wunsch von Papst Franziskus erst nach seinem Tod geplant gewesen, doch das kirchliche Jubiläum des Heiligen Jahres 2025 und – wie es auf der Verlagsseite heißt – "die Bedürfnisse unserer Zeit" hätten den Argentinier dazu bewogen, das Buch so schnell wie möglich verfügbar zu machen.
Erinnerung an gute und schlechte Dinge
Anders verhält es sich mit dem im März 2024 erschienenen Buch "Leben – Meine Geschichte in der Geschichte", das er zusammen mit dem italienischen Fernsehjournalisten Fabio Marchese Ragona verfasst hat und das aus mehreren Gesprächen besteht. Darin werden wichtige Stationen der jüngeren Geschichte anhand der Erinnerungen des Papstes nachgezeichnet. Dazu gehören unter anderem der Fall der Berliner Mauer, der Putsch von General Jorge Rafael Videla in Argentinien, die Mondlandung 1969 und die Fußball-Weltmeisterschaft 1986. In diesem Zusammenhang erinnerte Franziskus an seinen argentinischen Landsmann Diego Maradona, der damals das legendäre Tor gegen die englische Nationalmannschaft schoss, das später weltbekannt wurde, weil Maradona es als mit der "Hand Gottes" erzielt bezeichnete.
Warum der Papst ein solches Buch geschrieben hat, erklärte er kurz darauf: Er habe es unter anderem auch für die jungen Menschen geschrieben, damit sie die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Denn wenn man ein gewisses Alter erreicht habe, sei es wichtig, sich an die guten und die schlechten Dinge im eigenen Leben zu erinnern. "Es ist eine Übung der Unterscheidung, die wir alle machen sollten, bevor es zu spät ist", rät Franziskus. Das erinnert vor allem auch an das kürzlich erschienene Buch des bekannten tschechischen Priesters und Religionsphilosophen Tomas Halik, "Traum vom neuen Morgen", in dem er das Ideal eines Papstes mit einer besonderen Sendung entwirft; einem geistigen Begleiter und Diener aller suchenden Menschen innerhalb der Kirche oder jenseits ihrer sichtbaren Grenzen, der mit seiner Erfahrung und seiner freundlichen Weisheit zu helfen versucht.
„Es ist eine Übung der Unterscheidung, die wir alle machen sollten, bevor es zu spät ist.“
Papst Franziskus scheint dieses Ideal in gewisser Weise bereits vorzuleben, vor allem durch seinen Ansatz, der unter anderem in der Vielzahl von Publikationen besteht, in denen er selbst als Autor auftritt und – anders als die Päpste vor ihm – Einblicke in sein Denken und Leben gewährt. Johannes Paul II. trat hingegen mit Gedichtbänden hervor, Benedikt XVI. mit seinem dreiteiligen theologischen Werk über Jesus von Nazareth sowie mehreren Interviewbänden im Gespräch mit dem Journalisten Peter Seewald. Franziskus gab und gibt noch immer Interviews in verschiedenen Medien. Die Publikationstätigkeit des Pontifex umfasst jedoch ein weites Themenfeld: Neben päpstlichen Schreiben, die alle Päpste als Teil ihrer "Arbeit" veröffentlichen, gibt es darüber hinaus von Franziskus – meist mit Koautoren verfasste – Bücher etwa zu Korruption, Migration, Wirtschaft und Glaubensthemen, wie 2016 das über die Bedeutung der Barmherzigkeit ("Der Name Gottes ist Barmherzigkeit") oder 2018 über die Jugend und ihre Rolle in Kirche und Gesellschaft ("Gott ist jung"), gefolgt 2020 von Reflexionen über die Welt nach der Corona-Pandemie ("Wage zu träumen"). Dazwischen erschienen immer wieder Bände wie etwa der über das Gebet Jesu, "Vater unser" (2018), das Geheimnis der Gottesmutter, "Ave Maria" (2019) oder "Ich glaube" (2020), in denen der Pontifex wichtige Fragen des Glaubens neu interpretiert.
Die spannendsten Einblicke gewährt Franziskus aber in Interview-Büchern wie etwa "Leben" oder auch dem zunächst nur auf Spanisch erschienenen Interview-Buch "El sucesor" (deutsch: "Der Nachfolger") mit dem Journalisten Javier Martínez-Brocal. Darin äußerte sich der Papst beispielsweise zu brisanten Vatikan-Themen, wie einer Verschwörung in der römischen Kurie oder dem Zerwürfnis mit seinem früheren Privatsekretär Georg Gänswein. Interessant waren vor allem die Informationen zu den Konklaven von 2005 und 2013, über die das Kirchenoberhaupt offen und ohne Androhung von Kirchenstrafen sprechen konnte.
In dem Buch mit Martínez-Brocal sprach er unter anderem offen über den damaligen Leiter der vatikanischen Liturgieabteilung, Kardinal Robert Sarah, und dessen Rolle im Vatikan sowie über Gänsweins Memoiren und den Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung. Auch das Verhältnis zu seinem Vorgänger Benedikt XVI. kam in "El sucesor" zur Sprache. Neben weiteren Themen wie dem Ende der mächtigen Privatsekretäre, der Vereinfachung des Papstbegräbnisses und dem Wirbel um das Segnungsdokument "Fiducia supplicans" äußerte sich der Pontifex auch zu einem möglichen Rücktritt.
Ein Buch über Frauen
Wie der Papst zuletzt mit seiner Asienreise und der zweiten Sitzungsperiode der Weltsynode gezeigt hat, scheint ein Rücktritt noch in weiter Ferne zu liegen. Stattdessen publiziert der Papst fleißig weiter – neben den für Januar angekündigten Memoiren über die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts mit der Geschichte seiner italienischen Wurzeln und dem Abenteuer seiner Vorfahren, nach Südamerika auszuwandern, veröffentlichte er noch vor Beginn der Weltsynode ein Buch über Frauen, "Sei unica" (deutsch: "Du bist einzigartig"). Darin ließ er durch seine Predigten und Texte berühmte Schriftstellerinnen, Philosophinnen, Künstlerinnen und andere weibliche Persönlichkeiten wie Jane Austen, Hannah Arendt, Agatha Christie, Emily Dickinson, Frida Kahlo, Anne Frank und beispielsweise Virginia Woolf zu Wort kommen, um zu betonen, dass die Welt in den Händen von Frauen eine bessere wäre. "Es ist wichtig, dass Ihre Stimme mehr gehört wird, dass sie mehr Gewicht hat. Ihre Autorität muss anerkannt werden", schreibt der Papst.
Ob das Buch überzeugend und authentisch genug ist, werden Frauen angesichts der aktuellen Debatten um die Frauenfrage beurteilen. Eine mögliche Verlängerung von Entscheidungen wie die des Frauendiakonats könnte dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung machen. Doch eines ist sicher: Die neuen Memoiren mögen Enthüllungen und bisher unveröffentlichte Geschichten bringen, aber sein Auftreten in der Öffentlichkeit wird Franziskus zu einem Papst machen, dessen Name nicht in Vergessenheit geraten wird – vor allem wegen seiner Medienpräsenz und seines eher unkonventionellen Kommunikationsstils, der mal mehr, mal weniger erfolgreich sein dürfte.