"Der Uniformismus war immer bremsend"

Zulehner: Dezentralisierung bringt die Kirche aus der Stagnation

Veröffentlicht am 11.12.2024 um 00:01 Uhr – Von Mario Trifunovic – Lesedauer: 

Bonn/Wien ‐ Kommt es nach der Weltsynode zu einem Kulturwandel? Ja, sagt der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner. Im katholisch.de-Interview spricht er über die Zukunft der Kirche, die Frauenordination, den deutschen Synodalen Weg und erklärt, was die Kirche bewegen wird.

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Steht die katholische Kirche nach der Weltsynode vor einer "Zeitenwende"? Mit Blick auf Dezentralisierung, Kulturwandel und die Frage der Frauenordination fordert der emeritierte Wiener Pastoraltheologe und Religionssoziologe Paul Zulehner im Interview mit katholisch.de tiefgreifende Reformen, die nicht nur strukturelle, sondern auch kulturelle Veränderungen mit sich bringen. Außerdem spricht er über die Herausforderungen, denen sich die katholische Kirche in Zukunft stellen muss und erklärt, wie Dezentralisierung Bewegung in die Weltkirche bringen könnte.

Frage: Herr Zulehner, die Weltsynode ist nach zwei Jahren zu Ende gegangen. Der Synodenprediger Timothy Radcliffe sprach von einem Kulturwandel. Stimmen Sie ihm zu?

Zulehner: Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass die katholische Weltkirche aus der Stagnation kommt, indem sie sich dezentralisiert. Der Uniformismus war immer bremsend, denn es ist schwierig, die verschiedenen Regionen der Weltkirche in unterschiedlichen Kulturen wie Afrika oder Europa im gleichen Schritt voranzubringen. Das Ziel ist nun, diesen Uniformismus ohne Aufgabe der Einheit aufzulösen und den kontinentalen Bischofsversammlungen, dann auch den Bischofskonferenzen selber so wie schließlich den Ortskirchen mehr Entscheidungsbefugnisse zuzuweisen. Das wird sicherlich eine deutliche Bewegung in die Weltkirche bringen. 

Frage: Welche Veränderungen könnten noch folgen?

Zulehner: Eine weitere Veränderung, die ich für substanziell halte, ist der Versuch der Transformation einer von der Priesterweihe her entworfenen Sozialgestalt der Kirche, zu einer Sozialgestalt, die von der Taufe her entworfen ist. Die Priesterkirche, wenn ich sie so nennen darf, stand in der Versuchung, klerikal zu werden, was Papst Franziskus immer wieder kritisiert hat. Das ist der Fall, wenn sich die Vollmacht zur Macht deformiert, wenn aus der Ordination der einen die Subordination der anderen wird. Das sollte überwunden werden, wie es auch das Zweite Vatikanische Konzil bereits sagte, wenn es von der fundamentalen Gleichheit an Würde und Berufung aller aufgrund der Taufe spricht. Deshalb ist das Schlussdokument der Weltsynode ganz eindeutig, denn die Schlüsselfrage wird sein, ob es der Kirche gelingt, diese Transformation zu einer Volkgottes-Kirche zu vollbringen. Es wird eine der großen Herausforderungen sein, das Papier zum Leben zu erwecken. 

Frage: Wie würde sich die neue synodale Haltung in der Liturgie zeigen?

Zulehner: Dazu habe ich ein persönliches Beispiel. Ich bin zwar kein Pfarrer in einer Pfarrgemeinde, erhalte allerdings viele Anfragen zu Taufen, Trauungen und Beerdigungen. In der Vergangenheit habe ich das klaglos gemacht, eine Predigt vorbereitet und die Liturgie "gehalten". Heute sage ich den Leuten, dass ich gerne mitmache, ein Ablaufpapier schicke, aber sie dürften nicht vergessen, dass es "ihre" Taufe ist. Ich tue meinen amtlichen Teil, aber die Leute müssen die Liturgie größtenteils gestalten. Die Synodalisierung sowie die Reform der Kirche beginnt mit der Liturgie. Wie auch die Liturgiekonstitution das erste verabschiedete Dokument des Zweiten Vatikanums war. Wir sind da in einigen Elementen schon ganz gut vorangekommen, aber ich finde, hier haben wir noch ein gutes Stück des Weges vor uns.

Die Teilnehmer der Weltsynode in Gesprächen
Bild: ©KNA/Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani

"Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass die katholische Weltkirche aus der Stagnation kommt, indem sie sich dezentralisiert", meint Zulehner im Interview.

Frage: Die Dezentralisierung werde Bewegung in die Weltkirche bringen, sagen sie. Wenn wir uns an das Segensdokument von vor einem Jahr erinnern, wurde es in Europa begrüßt, in Afrika wurde es vehement abgelehnt. Wie kann man sich diese neue Pluralität, von der Sie sprechen, angesichts dieser Differenzen vorstellen?

Zulehner: In vielen Fragen werden wir eine andere, lokale oder kontinentale Kirchenkultur entwickeln müssen. Bei mir studieren Männer aus afrikanischen Ländern, von denen ich weiß, dass sie mit dem Thema Homosexualität noch einen weiten Weg vor sich haben, den wir in Europa auch gehen mussten. Es ist also durchaus möglich, dass wir in Europa die Segnungen nicht in 15 Sekunden vollziehen werden, sondern eine gute Liturgie dazu entwickeln müssen. Damit haben manche schon längst angefangen, während die Bischöfe selbst in Afrika noch kulturelle Vorarbeit leisten müssten. Theologisch muss es dort erst zu einer Wende kommen. Umgekehrt aber werden die Lateinamerikaner mit großer Sicherheit auf der nächsten großen Kirchenversammlung darüber nachdenken, was sie dem Papst bereits in der Amazonassynode vorgeschlagen haben. Der Papst wollte damals wohl zuerst dezentralisieren, ehe es dazu kommt, dass die Ortskirchen selbst entscheiden können, was sie benötigen. 

Frage: Wie geht da die Frauenfrage mit Blick auf Dezentralisierung einher?

Zulehner: Wie viele andere in der Weltkirche, war ich nicht sehr glücklich, wie man auf der Weltsynode damit umgegangen ist. Die zu Recht aufgebrachten Synodenteilnehmerinnen und -teilnehmer haben erreicht, dass der Glaubenspräfekt persönlich Rede und Antwort gestanden hat und letztendlich im Schlussdokument steht, die Frage nach dem Frauendiakonat sei nicht abgeschlossen, sondern offen. Das ist meines Erachtens ein kleiner Hoffnungsschimmer für weiterführende Diskussionen, auch wenn ich als Theologe überhaupt nicht verstehe, was an dieser Frage noch offen sein soll.

Frage: Können Sie das näher erklären?

Zulehner: Für viele Theologen ist bereits lange klar, dass es keine gravierenden theologischen Hindernisse gibt, den Frauen den Zugang zur Ordination zu ermöglichen. Ich persönlich bin eher skeptisch, ob es richtig ist, das Diakonat zu verlangen und wenn es denn mal geöffnet wird, man möglicherweise weitere 500 Jahre weibliche Diakoninnen hat und darüber nach wie vor das patriarchale Gefüge männlicher Priester, Bischöfe und den Papst. Dabei ist Geschlechtergerechtigkeit gesellschaftspolitisch ein "Muss", also unumgänglich notwendig. Frauen müssen deshalb schlicht und einfach den Zugang zum ordinierten Amt in der Kirche verlangen, ohne vorher zu definieren, zu welcher Stufe.

„Für viele Theologen ist bereits lange klar, dass es keine gravierenden theologischen Hindernisse gibt, den Frauen den Zugang zur Ordination zu ermöglichen.“

—  Zitat: Paul Zulehner

Frage: Glauben Sie, dass es da zu einer Veränderung kommen wird?

Zulehner: Joseph Ratzinger hatte einmal über meinen Bischof, den Kardinal, angefragt, was ich zur Frauenordination denke. Da habe ich geantwortet, dass auch Papst Pius IX. gesagt hat, die Kirche werde die Demokratie, Religionsfreiheit und Pressefreiheit nicht anerkennen. Zwar hat es um die hundert Jahre gedauert, bis das Konzil dann festgelegthat, dass es ohne Religionsfreiheit keinen Glauben gibt. Dann äußerte sich Johannes Paul II. 1994, die Kirche werde Frauen niemals ordinieren. Jetzt frage ich mich, wie lange jetzt der Countdown dauern wird, bis es zu einer anderen Entscheidung kommt.

Frage: Braucht es dafür ein Konzil?

Zulehner: Kardinal Schönborn hatte kürzlich gesagt, dass diese Frage wahrscheinlich nur ein Konzil entscheiden kann und nicht eine Arbeitsgruppe der Synode im Hintergrund oder der Papst im Alleingang. Deshalb bin ich auch der Ansicht, dass dies so eine gravierende Anfrage an die katholische Kirche ist, dass wir ein Konzil benötigen. Ich bin mir ganz sicher, dass es nicht mehr so lange dauern wird, wie beim Beispiel der Religionsfreiheit.

Frage: Nach der Weltsynode sprach man in Deutschland davon, dass die von Rom geforderte Durchsetzung synodaler Beratungen auf allen Ebenen dem deutschen Synodalen Weg Rückenwind verschaffe. Wie sehen Sie das?

Zulehner: Ich sehe es genauso. Die Kirche in Deutschland kann jetzt aufatmen. Auch wir brauchen, was andere Kirchengebiete bereits machen, etwa jene im Amazonas. Dort wurden Bischofsversammlungen zu Kirchenversammlungen umgebaut. Unsere Bischofskonferenzen werden gar keine andere Wahl haben, als Frauen und Männer, Kleriker wie Laien, in die Leitung der Ortskirchen nachhaltig einzubinden. Es wird dabei sicherlich zu einer Synodalisierung der Leitung, der Beratung und der Entscheidungen kommen. Der Papst hat eine Demonstration erster Klasse hingelegt, als er zeigte, was es heißt, von Amtswegen Entscheidungen zu treffen. Sein "decision taking" bestand darin, das beratene Ergebnis 1 zu 1 zu übernehmen. Das geht umso eher, wenn schon bei der Beratung eine gute theologische Arbeit geleistet worden ist.

Synodalversammlung
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

"Die Römer wollten, dass die Entscheidung in Rom und nicht in Deutschland fällt", so Zulehner.

Frage: Wie wird das künftig in den Leitungsgremien aussehen? Ein Bischof konnte ja aufgrund "schwerwiegender Gründe" die jeweiligen Ergebnisse ablehnen…

Zulehner: Das war natürlich ein Skandal, wie es bisher gehandhabt und vom kanonischen Recht legitimiert wurde. Ein Bischof konnte widersprechen und sagen, er habe schwerwiegende Gründe, dass der womöglich übereinstimmend gemachte Vorschlag des Gremiums nicht mit Tradition und Kirche übereinstimme. Ein Amtsträger konnte dann selbst entscheiden, was schwerwiegende Gründe sind! Aber in Zukunft wird es diese Kultur der Beliebigkeit nicht mehr geben, weil auch die Synode selbst eine Rechenschaftspflicht und klare Argumente fordert. Künftig könnte es sein, dass das gemeinsame Ergebnis nicht so akzeptiert werden kann und dann Beratungsschleifen entstehen, bis man sich auf einen Konsens geeinigt hat.

Frage: In diesem Zusammenhang steht auch die vielfach geforderte Rechenschaftspflicht für die Bischöfe…

Zulehner: Die Rechenschaftspflicht war eines der ganz großen Hauptanliegen der Synode, und zwar nicht nur in Missbrauchsfragen, sondern unter anderem auch über die synodale Amtskultur. Nur muss diese Amtskultur erst einmal entwickelt werden. Übrigens haben wir nicht nur im Amt selber einen Widerstand gegen die Synodalisierung, sondern es gibt auch so etwas wie eine bequeme Dienstleistungskirche. Da erwarten sich die Leute qualifizierte Dienstleistungen von Haupt- und Ehrenamtlichen, möchten aber selbst bequem im liturgischen Lehnstuhl verbleiben. Es braucht daher eine Synodalisierung in einer doppelten Weise: dass die Gläubigen ihre Berufung annehmen und, dass das Amt synodaler wird. Das ist die Zukunft der Kirche und anders wird sie wahrscheinlich auch in einer modernen Kultur gar nicht Bestand haben.

Frage: Dann hat Rom das deutsche Reformvorhaben gestoppt, um es in das weltkirchliche Geschehen einzubinden?

Zulehner: Ja, diese Meinung teile ich. Die Römer wollten, dass die Entscheidung in Rom und nicht in Deutschland fällt. Die Kirche in Deutschland hat aber auch den Ruf, sehr kantig zu argumentieren. Wie ich von den Begegnungen bei der Kontinentalphase in Prag gehört habe, ist für manche Bischöfe aus beispielsweise Osteuropa die Begegnung mit einer solchen kantigen Argumentation nicht unbedingt hilfreich. Ich wünschte, dass Deutschland, was die Kommunikationskultur angeht, bei uns Österreichern in die Schule geht. Was die theologische Qualität betrifft, könnten wir in Österreich von den Deutschen lernen. Die Kommunikation muss auf einem kommenden Konzil viel stärker werden, wenn man bedenkt, wer das Zweite Vatikanische Konzil mitgeschrieben hat und wie einige Theologen jetzt nur beiläufig zuschauen durften.

Bischöfe beim Gottesdienst zur Eröffnung der letzten Phase der Weltsynode auf dem Petersplatz im Vatikan.
Bild: ©KNA/Stefano Dal Pozzolo/Romano Siciliani

"Die Rechenschaftspflicht war eines der ganz großen Hauptanliegen der Synode, und zwar nicht nur in Missbrauchsfragen, sondern unter anderem auch über die synodale Amtskultur", sagt der Wiener Pastoraltheologe.

Frage: Und die Deutschen?

Zulehner: Es ist eine Stärke der deutschen Kirche, dass ihr Synodaler Weg, den sie eingeschlagen hat, sehr stark theologisch gestützt ist. Dennoch habe ich die Sorge, dass dieser Synodale Weg in Deutschland vielleicht noch nicht die Basis erreicht hat.

Frage: Woher kommt die Befürchtung?

Zulehner: Es ist eine Versammlung der Bischöfe und der Laienorganisationen, aber ich höre Vorbehalte aus vielen Pfarrgemeinden, zu denen ich Kontakt habe. Ich nehme da nicht wahr, dass der Synodale Weg eine starke Reforminitiative ausgelöst hat. Also diese Aufgabe der Synodalisierung der Kirche im eigenen Land und nicht nur der Strukturen, das ist eine der kommenden Herausforderungen der deutschen Kirche. Ich stütze mich auf eine Studie, die zum Jahreswechsel unter dem Titel "Zeitenwende" erscheinen wird. Wir haben im gesamten deutschen Sprachraum die Strukturveränderungen evaluiert und sind zur Erkenntnis gekommen, dass wir mitten im Umbauprozess sind – von einer Priester- oder Dienstleistungskirche hinzu einer Volk-Gottes-Kirche. Noch hat aber das Dienstleitungsmodell mehr Sympathien als die durchaus unbequeme Taufberufungskirche.

Von Mario Trifunovic

Buchtipp

Paul M. Zulehner, "Zeitenwende. Aufgaben und Chancen kirchlicher Strukturreformen", Grünewald 2025.