Fünf Jahre "Querida Amazonia": Mehr als die Debatte um "viri probati"
Die Ernüchterung bei dem einen oder anderen Beobachter war unüberhörbar. Obwohl sich die Teilnehmer der Amazonas-Synode in Rom mit deutlicher Mehrheit für "viri probati", also verheiratete Priester, ausgesprochen und die Prüfung der Einrichtung des Frauendiakonats in der Region angeregt hatten, tauchte beides im nachsynodalen Schreiben "Querida Amazonia", das Papst Franziskus am 12. Februar 2020 als Zusammenschau der Ergebnisse veröffentlicht hatte, nicht auf. Die Amazonas-Synode war zwar "nur" eine Regionalversammlung – dennoch war der Text mit Spannung erwartet worden: Schließlich konnte man ihn als Hinweis für manche gesamtkirchliche Reformdebatten deuten. Wurden unter Papst Franziskus erneut Hoffnungen auf Veränderungen enttäuscht?
Genau auf diese Themen konzentrierten sich besonders im Westen die Reaktionen auf das Schreiben. Die anderen Aspekte – die massiven ökologischen und damit verbundenen sozialen Probleme der Amazonasregion und der dort lebenden indigenen Bevölkerung – gerieten in den Hintergrund, obwohl diese Themen für die Menschen vor Ort von großer Dringlichkeit sind. Schließlich geht es für sie um nichts weniger als ihre Lebensgrundlagen. Und auch auf die weltweite klimatische Entwicklung hat das Wohl oder Wehe des Amazonas-Gebiet entscheidenden Einfluss.
"Mangelndes Personal führt zu mangelnder Präsenz"
Grundsätzlich hätte man sich auch am Amazonas "viri probati" und das Diakonat der Frau gewünscht. "Viele Bischöfe und die Menschen an der Basis empfinden weiterhin, dass das eine Hilfe für die Amazonas-Region wäre, um Gemeinden zu begleiten", sagt die in Peru lebende und lehrende deutsche Ordensfrau und Theologin Birgit Weiler. Denn der Priestermangel sei dort sehr stark. "Mangelndes Personal führt zu mangelnder Präsenz, die gespürt wird von den Menschen."

Schwester Birgit Weiler über "viri probati": "Viele Bischöfe und die Menschen an der Basis empfinden weiterhin, dass das eine Hilfe für die Amazonas-Region wäre, um Gemeinden zu begleiten".
Dennoch: Die Verengung der Debatte auf die kirchenpolitischen Themen hat in Amazonien für große Schmerzen gesorgt, berichtet Weiler. Die Christen dort hätten sich gewünscht, dass etwa in Westeuropa das Hauptaugenmerk darauf gelegt wird, wie sehr Amazonien gefährdet sei und was andere Teile der Weltkirche zu seinem Schutz beitragen könnten. Zudem sei in der Rezeption zu kurz gekommen, welche Hinweise im Rahmen der Amazonas-Synode für eine synodale Zukunft der Kirche gegeben worden seien. So etwa im von der Versammlung abgestimmten Schlussdokument, dessen Lektüre Papst Franziskus in "Querida Amazonia" ausdrücklich empfiehlt.
"Querida Amazonia" steht in einer Linie mit der Umweltenzyklika "Laudato si" (2015) von Papst Franziskus. Der Pontifex entwickelt darin eine soziale, kulturelle sowie ökologische und im letzten Teil schließlich eine kirchliche Vision für das Amazonas-Gebiet. Unter anderem schreibt Franziskus, er träume von einem Amazonien, das für die Rechte der Ärmsten kämpft, ihre Stimme hört und ihre Würde fördert – und davon, dass die Region ihren "charakteristischen kulturellen Reichtum" bewahrt. Und er spricht von einer Kirche "mit amazonischen Gesichtszügen". Dazu sollen unter anderem Laien stärker in die Arbeit der Gemeinden eingebunden werden.
Fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Schreibens sind erste Früchte der Synode im Amazonien erkennbar oder noch in der Reifephase. Vieles hat die Corona-Pandemie verzögert, die in der Zeit zwischen Synode und päpstlichem Dokument ausbrach. Eine extrem weitläufige Region mit eher schwacher Infrastruktur wie Amazonien war von den mit ihr einhergehenden Einschränkungen noch stärker betroffen als andere Teile der Welt. Zur Einordnung: Das Einzugsgebiet des Amazonas hat eine Fläche von mehr als sieben Millionen Quadratkilometern. In den urbanen Regionen leben etwa 7,6 Millionen Menschen, von denen etwa 72 Prozent katholisch sind; in den ländlichen Gebieten leben rund 612.000 Menschen, der Katholikenanteil liegt bei rund 67 Prozent.
Kirche mit "amazonischem Gesicht"
Wegen Corona konnte sich das prominenteste Ergebnis der Amazonassynode erst 2023 zum ersten Mal richtig treffen: die Kirchenkonferenz von Amazonien (CEAMA), die 2020 gegründet worden war. Bei der CEAMA handelt es sich um ein weltweit einmaliges kirchliches Organ. Sie ist eine gemeinsame Initiative des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) und des kirchlichen Amazonas-Netzwerks REPAM. Als Versammlung, bestehend aus Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Laien, sollen Strukturen geschaffen werden damit der synodale Geist in Amazoniens Kirche wachsen kann. Ihre provisorischen Statuten hat Papst Franziskus 2022 approbiert, bis 2026 sollen sie endgültig ausgearbeitet werden. Das Präsidium bildet alle kirchlichen Berufungen ab: vom Bischof über den Priester und die Ordensfrau bis zum Laien.

"Querida Amazonia" steht in einer Linie mit der Umweltenzyklika "Laudato si" (2015) von Papst Franziskus. Der Pontifex entwickelt darin eine soziale, kulturelle sowie ökologische und im letzten Teil schließlich eine kirchliche Vision für das Amazonas-Gebiet.
Nicht nur als Beraterin der CEAMA hat Birgit Weiler einen guten Einblick in all das, was sich im Zuge der Synode in Amazonien aktuell entwickelt. In vielen Bereichen arbeite man an einer Kirche mit "amazonischem Gesicht" – und nehme dabei immer die Basis mit. Ein Beispiel: Die Gemeinden sind intensiv in die Entwicklung eines Amazonas-Ritus eingebunden, die von der Synode beschlossen worden ist. "Das darf nicht am Schreibtisch von einigen Experten entwickelt werden", sagt Weiler. "Die Elemente werden mit den Menschen vor Ort ermittelt: was sind wichtige Gesten für sie? Wie sollen Sakramente gefeiert werden, damit sie den Glauben der Menschen stärken?" Es soll Eigenheiten für die einzelnen Volksgruppen geben, aber auch verbindende Elemente.
Auch im Bereich der Bildung gibt es Früchte der Amazonas-Synode. Es wurde ein schulisches sowie ein universitäres Programm für Indigene initiiert. Die Ortsgemeinschaften können bestimmen, wen sie aus ihren Reihen dafür bestimmen. Im Sinne der ganzheitlichen Entwicklung ist es das Ziel dieser Programme, dass sich die Teilnehmer mit dem Wissen, das sie sich aneignen, in ihren Gemeinden einbringen.
Pionierrolle im weltweiten synodalen Prozess der Kirche
Es sind bereits wichtige erste Schritte in einem langen Implementierungsprozess getan worden, resümiert Weiler. Vieles wird begleitet und angeregt – vor allem durch Frauen. "Sie schauen besonders, dass die Inhalte der Synode bei den Menschen ankommen." Sie seien Botschafterinnen einer Kirche, die gemeinsam unterwegs ist. "Man merkt, dass es den Menschen im Amazonas Freude macht, gemeinsam Kirche zu sein", betont die Theologin. "Sie sind aber auch kritisch, wenn sie das Gefühl haben, ihrer Stimme wird zu wenig Beachtung geschenkt." Zudem verbündet sich die Kirche in Amazonien immer stärker mit anderen gesellschaftlichen Akteuren. All das ist für die Ordensfrau Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins, dass die Kirche in Amazonien im Zuge der Synode gewonnen habe.
Diese Beobachtung stützt das deutsche kirchliche Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat, das viele kirchliche Akteure und Projekte dort untertützt. Auf seinen Reisen durch die Region habe er erlebt, dass sich die Menschen, die Pfarrgemeinden, Ordensleute, Priester und Bischöfe Amazoniens inzwischen als Teil einer gemeinsamen eigenständigen Region begriffen – und nicht mehr als abgehängte Armenhäuser ihrer jeweiligen Länder, sagt Pater Martin Maier, Adveniat-Hauptgeschäftsführer. Es ist also eine Art gemeinsame kirchliche Identität in Amazonien entstanden. Zusammenschlüsse wie die CEAMA bieten dazu den "den institutionellen Rahmen, damit die Kirche vor Ort weiterwachsen kann, um die Frohe Botschaft in die Kulturen Amazoniens zu übersetzen und in eigenen spirituellen und liturgischen Ausdrucksformen lebendig werden zu lassen", führt Maier fort.
„Das darf nicht am Schreibtisch von einigen Experten entwickelt werden.“
Birgit Weiler ist grundsätzlich der Ansicht, dass die Kirche in Amazonien auch eine Pionierrolle im weltweiten synodalen Prozess der Kirche einnimmt, der in das Projekt der Weltsynode mündete. Schon vor der Amazonas-Synode wurden viele Stimmen von Repräsentanten indigener Bevölkerungsgruppen gehört, die schließlich Eingang in die Beratungen fanden. Diese Kultur des Zuhörens habe die Grundlage für die Methode der Beratungen bei der Weltsynode geliefert. Und schon das Schlussdokument der Amazonas-Synode enthalte starke Passagen über die Synodalität, die nun auch im Schlussdokument der Weltsynode zu finden seien. Dabei mache die Amazonas-Synode einen Aspekt stärker, meint Birgit Weiler: "Lasst uns inkulturieren. Und lasst uns vor allem die Menschen, die am Rande stehen, nicht vergessen."
Am Amazonas geht es um viele Dinge, die die ganze Welt betreffen, gerade ökologisch. Der Einsatz für die Lebensgrundlagen der Menschen in der Region kostet immer mehr Leben: Die Zahl der Ermordungen an indigenen Gemeindeleitern, die sich gegen die Abholzung des Regenwalds wehren, ist seit der Corona-Pandemie gestiegen. Nicht nur deshalb wünscht sich die Kirche in Amazonien vor allem, dass es eine stärkere weltkirchliche Vernetzung im Einsatz für Amazonien gibt, da nicht zuletzt laut "Querida Amazonia" Evangelisierung und die Sorge um die Erde eng zusammengehören, sagt die Theologin Weiler. Das ist für viele Gläubige in der Region aufgrund der zunehmenden Bedrohung ihrer Existenz der entscheidendere Inhalt des päpstlichen Schreibens – auch wenn sie selbst bei der Frage nach verheirateten Priestern oder dem Frauendiakonat vielleicht anders entschieden hätten als Franziskus.