Ich bin dann mal da! – Pilgerseelsorge in Santiago de Compostela
Schon kurz nach Sonnenaufgang treffen die ersten Pilger auf dem Platz vor der Kathedrale in Santiago de Compostela ein. Viele setzen sich auf den Boden, angelehnt an die Mauer des gegenüberliegenden Polizeigebäudes, den Blick auf die barocke Fassade gerichtet. Andere liegen auf dem hellen Steinboden, mit ihrem Rucksack als Kopfkissen. Wanderschuhe und Socken haben die meisten ausgezogen. Es riecht nach verschwitzten Kleidern. Neu ankommende Pilger recken den Rucksack, die Wanderstöcke oder die Hände in den Himmel: eine Siegerpose, die sagt: Ich habe es geschafft, ich bin dann mal da.
Etwa 1.500 Pilger erreichen in den Sommermonaten täglich die Kathedrale, in der die Grabstätte des Apostels Jakobus verehrt wird - im vergangenen Jahr rund 330.000 Menschen aus 177 Nationen. Einer von ihnen ist Henry Müller aus dem baden-württembergischen Muggensturm. Er sitzt auf einer Steinbank vor der Kathedrale, neben ihm sein mit schwerem Gepäck beladenes Rad. Er lacht und hat zugleich Tränen in den Augen. "Ich habe mir oft vorgestellt, hier zu stehen. Aber der Moment ist überwältigend", sagt er.
Seit Dezember ist Henry - denn Pilger duzen sich - Rentner. Einen Tag nach seinem 66. Geburtstag packte er das Rad und fuhr los, von Saint-Jean-Pied-de-Port unweit der französischen Grenze zu Spanien über die Pyrenäen rund 800 Kilometer bis Santiago. Ohne E-Bike, wie andere, nur mit Muskelkraft. "Vor dem Alleinsein hatte ich die meiste Angst", sagt er. "Aber man ist nicht allein. Es sind immer alle dabei, auch die, von denen ich mich nicht mehr verabschieden konnte." Die Tour sollte für ihn auch ein Weg sein, mit Todesfällen in seinem Umfeld klar zu kommen.
In die Freude über das Ankommen mischt sich bei manchem Bedauern. "Wenn man Santiago erreicht, sind innerhalb von Stunden alle weg, denen man während vieler Wochen immer wieder begegnet ist", sagt Gerda Montkowski. Sie wanderte vor einigen Jahren selbst rund 2.000 Kilometer auf dem Jakobsweg und engagiert sich heute in Santiago im Team der deutschsprachigen Pilgerseelsorge. Seit genau zehn Jahren will das Projekt der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Deutschen Bischofskonferenz Pilgern am Ende ihrer Reise zur Seite stehen, die Gemeinschaft oder spirituelle Begleitung suchen oder einfach über das Erlebte sprechen wollen.
Die 68-Jährige Birgit aus dem thüringischen Meiningen erzählt Gerda halb lachend, halb weinend, wie sie sich mit ihrem Wunsch durchsetzen musste, den Weg zu laufen - gegen Widerstände in der Familie. Der Arzt gibt ihr nur noch wenige Jahre, sagt sie. Während des Weges veränderte sich etwas für sie. Vorher wollte sie von ihrer Erkrankung nichts wissen, hoffte auf ein Wunder. "Aber es ist nun mal so. Ich kann das jetzt akzeptieren. Ich habe mein Leben gelebt. Alles, was noch kommt, nehme ich als Zugabe."
Pfarrer Wolfgang Klock, wie alle Mitarbeiter der Pilgerseelsorge immer nur für drei Wochen in Nordspanien im Einsatz, begleitet seit mehreren Jahren das Seelsorge-Team und beobachtet, dass immer mehr Touristen und "Sportpilger" das gut ausgebaute Wegenetz nach Santiago nutzen. Ein Gespräch oder die Beichte suchen nur wenige, was Klock mit einer sinkenden religiösen Motivation für die Reise nach Santiago erklärt. Besonders oft ziehe es Schulabgänger und Senioren nach Santiago, "Menschen an Lebenswenden, die sich neu sortieren", sagt er. "Die anderen haben gar keine Zeit dafür."
Einer, der doch das Gespräch mit dem Pfarrer sucht, ist Adrian, der gemeinsam mit seiner Oma rund 120 Kilometer auf dem "englischen Weg" wanderte - von Ferrol an der Küste im Nordwesten Spaniens bis Santiago. Vor zwei Jahren ist er aus der Kirche ausgetreten, probierte schamanische Zeremonien aus, konvertierte zum Buddhismus. "In der Pilgermesse fühlte ich mich ausgeschlossen und fragte mich, soll ich zur Kommunion gehen, darf ich überhaupt?", erzählt er. Halt gab die Aussage der Oma: "Du bist immer willkommen." Mit Klock will er nun über religiöse Fragen und Zweifel sprechen.
Hape Kerkelings 2006 erschienener Bestseller "Ich bin dann mal weg" weckte bei einem Millionenpublikum Interesse für den Jakobsweg. Die Zahl der Pilger stieg nach der Veröffentlichung deutlich an. Aber mit der Zahl der Pilger änderten sich auch deren Bedürfnisse, sagt Gerda. Sie kennt die Reisenden auch aus ihrer Arbeit in einer Herberge am Jakobsweg. "Früher war die erste Frage: 'Habt ihr ein Bett frei?'. Jetzt heißt es: 'Habt ihr WLAN?'"
Am Nachmittag liegt über dem Platz vor der Kathedrale ein Murmeln: Menschen reden durcheinander, fallen sich in die Arme, rufen quer über den Platz nach Bekannten. Die Kathedrale wird aktuell renoviert. Der tägliche Pilgergottesdienst findet in der 300 Meter entfernten Kirche San Francisco statt, was das Gewusel auf dem Platz noch einmal verstärkt. Der Praza do Obradoiro zieht als Sammelbecken täglich immer wieder neu Pilger an, deren Wege sich unterwegs gekreuzt haben, die sich hier wieder begegnen und dann meist für immer trennen.
Über dem Stimmengemisch liegt an diesem Frühjahrsnachmittag der quäkende Ton eines Dudelsacks. Schon morgens nimmt der Musiker seinen Platz unter dem Torbogen zwischen dem Vorplatz der Kathedrale und dem Nordtor ein. Er spielt, bis die Sonne untergeht, keltische Melodien ebenso wie den Titelsong zur Serie "Game of Thrones".
Wenige Meter daneben startet abends das Team der Pilgerseelsorge zusammen mit etwa 20 Interessierten einen Rundgang um die Kirche. Die Führung zieht auch Menschen an, die mit Religion scheinbar wenig anfangen können, aber dennoch einen geistlichen Abschluss für ihre Reise suchen.
"Es gibt Menschen, die laufen 800 Kilometer bis nach Santiago und wissen nicht, wer Jakobus war", sagt Gerda. Bei dem Rundgang erzählt sie anhand von Figuren an der Kathedrale von dem Apostel, seinem Leben und den Legenden, die sich um ihn ranken. Was sie den Pilgern sagen will: Das Ankommen in Santiago bedeutet nicht das Ende der Reise. "Der eigentliche Pilgerweg liegt im Alltag des Lebens."