Die heilige Bernadette
Die heilige Bernadette, "Seherin von Lourdes", gehört zu den Ikonen der katholischen Kirche. Posthum wurde sie ein Star, einer, an dem sich bis heute die Geister scheiden: Seherin oder Wichtigtuerin, Freundin der Gottesmutter oder hysterische Egomanin? Wie echt und wie überlagert von anderen Heiligen-Legenden ist noch die Überlieferung vom Mädchen Bernadette Soubirous, dem vor 150 Jahren im südfranzösischen Lourdes Maria erschien?
Die offizielle Lebensgeschichte vermerkt: ein Mädchen aus bettelarmem Elternhaus, Jahrgang 1844, kränklich, lernschwach und ob ihrer materiellen und körperlichen Mängel verachtet, erfährt mit 14 Jahren beim Schafehüten das Schlüsselerlebnis ihres kurzen Lebens: Zwischen dem 11. Februar und dem 16. Juli 1858 erscheint ihr nach eigener Schilderung in der Grotte von Massabielle bei Lourdes 18 Mal eine schöne Dame, die sich zuletzt als die "Unbefleckte Empfängnis" zu erkennen gibt. Die Gottesmutter selbst habe sie beauftragt, eine Kapelle zu errichten und Wallfahrten abhalten zu lassen, berichtet Bernadette.
Nirgends zählt ein Prophet so wenig wie in seiner Vaterstadt - das Bibelwort gilt zunächst auch in dem verschlafenen Ort am Fuß der Pyrenäen. Pilgerströme und Journalisten fallen ein in das Provinzidyll; erste Berichte über unerklärliche Heilungen. Doch zu Hause wird Bernadette von ihrer Mutter der Lüge bezichtigt für ihren "Faschingsrummel".
Kleine Landplage
Der Ortspfarrer und der Bischof unterziehen sie strengen Verhören. Und der Bürgermeister, dem die Behörden schon drohen, man werde die geplante Zugtrasse an Lourdes vorbeilegen, wenn es nicht bald zur Besinnung komme, klagt: "Sie werden sehen, diese kleine Landplage hat uns die Eisenbahn vermasselt." Derselbe Bürgermeister plant später, als die Bahn schon längst und erst recht im Ort Station macht, den Verkauf eines nach ihm benannten Wassers.
Der "Fall Soubirous" verselbstständigt sich: 1862 werden die Erscheinungen vom zuständigen Ortsbischof Laurence von Tarbes, 1891 von Papst Leo XIII. kirchlich anerkannt. 1925 wird Bernadette selig-, 1933 heiliggesprochen. Ihr irdisches Leben endet unspektakulär: Die einstige Hilfsschülerin, selbst immer wieder schwer krank, tritt in den Krankenpflege-Orden der "Dames de Nevers" ein. Dort stirbt sie 1879 mit nur 35 Jahren - vielleicht von der ein oder anderen Mitschwester um ihre Erscheinungen beneidet, aber alles andere als ein Star.
Unterdessen nimmt das Wunder von Lourdes seinen Lauf: Bischof Laurence beauftragt den Journalisten Henry Lasserre (1828-1900), den das Lourdes-Wasser von seiner Blindheit geheilt haben soll, die Visionen der Bernadette aufzuzeichnen. Das 1869 veröffentlichte Werk erscheint 1892 schon in 125. Auflage. Als Lourdes längst einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der Welt ist, verfasst Emile Zola mit dem ersten Roman seiner Trilogie "Les trois villes" 1894 eine Polemik gegen die "kollektive Illusion" von Wunderheilungen und den florierenden Kommerz. Das Ergebnis ist eine nie dagewesene Flut von Veröffentlichungen über die Wundergrotte.
Mehr als 30.000 Heilungen
Diese Ambivalenz hat sich bis heute erhalten. Lourdes zieht Jahr für Jahr Hunderttausende Kranke und Behinderte an. Und aus der Ferne lässt sich's zwar trefflich spotten über erfolgreiches Marien-Marketing und angeblichen Aberglauben. Doch seit 1858 sind mehr als 30.000 unerklärliche Heilungen gemeldet, von denen die Kirche 67, inzwischen beinahe 68, offiziell als Wunder anerkannt hat. Das Lourdes-Wasser aus der Grotte von Massabielle ist weiter gefragt; etwa 120.000 Liter fließen täglich - man sagt, es habe magische Kräfte. "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist", meinte einmal David Ben Gurion. Als Staatsgründer Israels sollte er es wissen.