Eine Weihnachtsgeschichte aus zwei Perspektiven

Polnische Weihnachten

Veröffentlicht am 24.12.2013 um 00:00 Uhr – Von Michael Richmann und Agathe Lukassek – Lesedauer: 
Weihnachten

Danzig/Bonn ‐ Michael Richmann hat an Heiligabend eine Familie in Polen besucht. Agathe Lukassek hat die Bräuche ihrer schlesischen Familie nach Deutschland importiert. Ein Erlebnisbericht aus zwei Perspektiven.

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Zögernd tippte ich die Zeilen an meine Freundin Ania aus Danzig, schließlich war Weihnachten bei uns im Rheinland immer so ein Familiending. Und sich einfach bei einer anderen Familie einzuladen, erschien mir abwegig – ich wollte nicht stören. Doch besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen: Ich war auf Reisen, seit vier Monaten; und sich ausgerechnet an Weihnachten fernab von der Familie alleine in den Schlaf zu lesen, war eine äußerst triste Vorstellung.

Der unerwartete Gast

Seine Sorgen waren unbegründet, denn bei uns Polen ist es üblich, an Heiligabend für den "unerwarteten Gast" ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch zu stellen. Meine schlesische Familie in Deutschland bereitet sich Jahr für Jahr aufs neue vor: Falls ein Fremder an der Tür steht, soll er wie ein Bruder aufgenommen werden. Da dies selbst in Polen selten passiert, hat der leere Teller mehrere Bedeutungen: Er soll an die Verwandten erinnern, die nicht dabei sein können, besonders an die Verstorbenen, und er steht für Jesus bereit, dessen Ankunft man erwartet.

Eine Schüssel der Mohn-Süßspeise "Makowki".
Bild: ©Agathe Lukassek

Die polnischen "Makowki" (auf deutsch Mohnpielen oder Mohnkießla) gehören als Nachspeise zum traditionellen Heiligabend-Menü.

Das "Hallo" in Danzig war stürmisch: Minus 22 Grad und der Wind pfiff mir um die Ohren. Zum Glück hatte Ania bereits einen Platz am Ofen für mich reserviert, ich bekam sogar meine eigenen Pantoffeln – und Schnaps. Das Ritual am Heiligen Abend war völlig neu: Das Menü war aus zwölf Gängen zusammengestellt – einer für jeden Apostel. Überwiegend Fisch, denn es ist noch Fastenzeit, begleitet von Brot und Wein. Um Mitternacht ging’s zur Christmette – auf Polnisch. Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen. Von der Heiligen Familie zu Ochs und Esel und dem Kind im Stall. Sollte die Weihnachtsgeschichte tatsächlich bewirkt haben, dass die Leute ihre Türen schneller öffnen als damals - vor mehr als 2.000 Jahren?

Ein Fest der Versöhnung

Für meine schlesische Familie gilt das sicherlich. Der tiefere Sinn des leeren Tellers ist, besonders an diesem Tag in jedem Menschen Jesus zu sehen und ihn willkommen zu heißen. Damit der Teller nicht leer bleibt, laden wir seit Jahren unsere 91-jährige Nachbarin ein, die sonst alleine feiern müsste. Wir beginnen das Fest, sobald der erste Stern am Himmel erschienen ist. Jeder hat eine rechteckige Oblate – oft mit eingestanzter Krippenszene – und teilt diese mit allen Anwesenden, verbunden mit versöhnenden Worten und Segenswünschen. Der Ursprung liegt in der vom Kirchenvater Augustinus berichteten frühchristlichen "Eulogie" , bei der das gesegnete, aber nicht gewandelte Brot an alle Gläubigen ausgeteilt wurde.

Bild: ©Agathe Lukassek

Oblaten auf den Tellern eines polnischen Tischs: Erst nachdem man das dünne Gebäck geteilt hat, fängt Heiligabend an.

In Danzig gab es weit nach Mitternacht Mohnkuchen; der steht für die Ankunft von Gottes Sohn. Ich hatte meine polnische Gastfamilie ob ihrer herzlichen Art bereits in Herz geschlossen. Sofern im Magen noch Platz war, gab es noch Kakao und Kekse. Für mich sogar ein Buch über die Geschichte Polens. Ich blätterte darin und las, dass die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 um 4.47 Uhr den Zweiten Weltkrieg angefangen hat, nur acht Kilometer nördlich von hier. Und zwei Generationen später sitzen wir gemeinsam unterm Tannenbaum.

Weihnachten der Kinder- und Jugendzeit

Das Gefühl kennt auch meine Familie in Deutschland: Mit Rote-Beete-Suppe mit Piroggen, gebratenen Karpfen, Sauerkraut mit Waldpilzen, Kompott aus getrockneten Früchten und Mohnpielen tischen wir Speisen auf, die selten bis nie in der deutschen Küche vorkommen. Als unsere Nachbarin vor Jahren das erste Mal bei uns war, war sie sehr bewegt: Sie stammt aus dem heutigen Tschechien und lebt seit ihrer Vertreibung nach Kriegsende in Deutschland. Die vielen polnischen Gerichte erinnerten sie offenbar an ihre Jugend. So etwas habe sie seit Jahrzehnten nicht mehr gegessen.

Von Michael Richmann und Agathe Lukassek