Magdeburger Kathedrale: Vom Branntweinlager zur Bischofskirche
Bei der Beschreibung bekannter Bauwerke findet sich etwa in Reiseführern häufig die Formulierung, dass ein Gebäude eine "bewegte Geschichte" erlebt habe. Meist handelt es sich dabei lediglich um eine Plattitüde, die mit der wirklichen Historie des Bauwerks nur wenig zu tun hat. Bei der Magdeburger Kathedrale St. Sebastian ist das anders: Hier ist die "bewegte Geschichte" tatsächlich passiert. Denn seit ihrer Weihe im 11. Jahrhundert hat die heutige Bischofskirche des Bistums Magdeburg eine historische Achterbahnfahrt mit manchen Höhen und vielen Tiefen erlebt.
Doch von Anfang an: Die Grundsteinlegung einer Stiftskirche am Ort der heutigen Kathedrale erfolgte um das Jahr 1015 durch den Magdeburger Erzbischof Gero. Besonders wegen eines Kopfreliquiars des heiligen Sebastians blühte das Gotteshaus schnell auf, denn dem Reliquiar wurde zugeschrieben, das damalige Erzbistum Magdeburg vor dem eindringenden Heer Heinrichs IV. beschützt zu haben.
Zwei verheerende Brände in nur 19 Jahren
1170 wurde die Stiftskirche durch eine romanische Basilika ersetzt, doch schon 1188 und erneut 1207 brannte die Kirche bei Großfeuern aus und wurde so stark beschädigt, dass das Kirchenschiff im 14. und 15. Jahrhundert umfassend umgebaut werden musste. Der alte, wohl noch aus der Zeit Geros stammende Chor wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts abgerissen und durch einen größeren ersetzt. Anfang des 15. Jahrhunderts wurde dann das Langhaus umgestaltet und eine spätgotische Hallenkirche errichtet. Nach Abschluss dieser Arbeiten weihte Erzbischof Ernst die Kirche am 17. Mai 1489 erneut.
Linktipp: Als Magdeburg noch Erzbistum war
Heute ist Magdeburg Sitz einer kleinen Diaspora-Diözese, doch im Mittelalter war die Stadt ein bedeutendes kirchliches Zentrum. Vor 1.050 Jahren gründete Otto der Große das Erzbistum Magdeburg. (Artikel von Juni 2018)
Im Zuge der 1517 von Martin Luther im nicht allzu weit entfernten Wittenberg entfachten Reformation entsagten auch die Stiftsherren von St. Sebastian 1558 dem katholischen Glauben, womit das Gotteshaus evangelisch wurde. 1573 erfolgte die Umwandlung in ein protestantisches Stift und am ersten Adventssonntag desselben Jahres hielt Domprediger Siegfried Sack den ersten evangelischen Gottesdienst.
Nach den beiden Großfeuern im 12. und 13. Jahrhundert brannte die Kirche bei der Erstürmung Magdeburgs im Dreißigjährigen Krieg am 10. Mai 1631 erneut nieder. Danach dauert es mehrere Jahrzehnte, bis das Gotteshaus wiederaufgebaut wurde. Erst 1663 wurden der Chor wiedererrichtet und eine hölzerne Decke in Form eines Gewölbes eingezogen. Und erst 1692 fand wieder ein Gottesdienst in der Kirche statt. Ein ursprünglich nördlich gelegener Kreuzgang verfiel jedoch und wurde ab dieser Zeit als Friedhof genutzt. Hiervon zeugte noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg der Straßenname "Friedhof".
Lager für Bier, Branntwein und Salz
Ab 1756 fanden dann in St. Sebastian keine Gottesdienste mehr statt, und in der französischen Besatzungszeit wurde im Jahr 1811 auch das Stift endgültig aufgelöst. Das Gebäude diente dem französischen Militär als Feldschmiede und Lager für Bier, Branntwein und Salz. Erst 1873 – in einer Zeit, in der immer mehr Katholiken aus den katholischen Gebieten Preußens nach Magdeburg zogen – kam die Kirche zurück in den Besitz der katholischen Gemeinde, die sie aufwändig restaurierte. Fünf Jahre später wurde in dem Gotteshaus dann die erste Heilige Messe nach der Reformation gefeiert.
Diese glücklichere Phase in der Geschichte von St. Sebastian endete mit dem Zweiten Weltkrieg und dessen Zerstörungen. Beim alliierten Luftangriff auf Magdeburg am 16. Januar 1945 wurde auch das Gotteshaus schwer beschädigt. Immerhin: Bereits 1946 waren die gröbsten Schäden am Kirchenschiff beseitigt. Dadurch konnte die Kirche nach Kriegsende schnell wieder für Gottesdienste genutzt werden. Bemerkenswert: Da der Dom und andere evangelische Kirchen der Stadt noch stärker beschädigt waren, fanden in St. Sebastian in der frühen Nachkriegszeit auch evangelische Gottesdienste statt.
Ab 1949 diente St. Sebastian dann als Bischofskirche für Weihbischöfe des Erzbistums Paderborn. Zur Erklärung: Nach dem endgültigen Untergang des einst mächtigen Magdeburger Erzbistums Ende des 17. Jahrhunderts war die Region 1821 dem Bistum Paderborn angegliedert worden. Diese Struktur hatte auch nach dem Zweiten Weltkrieg und der folgenden Teilung Deutschlands Bestand. Allerdings lagen Magdeburg und Paderborn nach der Gründung der DDR auf unterschiedlichen Seiten des Eisernen Vorhangs. Dadurch wurde es für die Paderborner Erzbischöfe immer schwieriger, ihre Gläubigen zu erreichen. Deshalb wurden ab 1949 Paderborner Weihbischöfe als Bischöfliche Kommissare nach Magdeburg abgestellt, um das "Mutterbistum" in der DDR zu vertreten.
Zwar blieb die Region Magdeburg nach 1949 offiziell Bestandteil des Erzbistums Paderborn. Das Magdeburger Gebiet entwickelte jedoch mit der Zeit eine immer größere Eigenständigkeit, die unter anderem 1973 in die Errichtung eines Bischöflichen Amtes mit einem Apostolischen Administrator an der Spitze mündete. Diese Entwicklung wiederum wurde schließlich gewürdigt, als nach der deutschen Wiedervereinigung die gesamtdeutsche Bistumslandschaft neu geordnet wurde und 1994 – neben Erfurt und Görlitz – auch ein eigenständiges Bistum Magdeburg errichtet wurde. Damit wurde St. Sebastian zur Kathedrale. Als solche bildet die unscheinbar in einer Nebenstraße gelegene und eng von Häusern umbaute Kirche heute den geistlichen Mittelpunkt des kleinen Diasporabistums.
Sehenswerter gotischer Hauptaltar von 1520
In den folgenden Jahren wurde die Kirche – wie auch schon in den 1950er und 1980er Jahren – umfangreich saniert. Unter anderem wurden der Innenraum neugestaltet sowie ein überdachter Kreuzgang, eine neue Sakristei und ein Kapitelfriedhof hinzugefügt. Außerdem wurde ein neuer Volksaltar errichtet, in dem sich eine Zahnreliquie des heiligen Sebastian befindet, die aus der Schädelreliquie der Wiener Schottenabtei der Benediktiner stammt und für die Altarweihe bereitgestellt wurde. 2007 weihte Domkapitular Ulrich Lieb zudem einen neuen Raum im Westportal ein, der dem stillen Gedenken an verstorbene Kinder dient.
Sehenswert im Inneren der an der "Straße der Romanik" liegenden Kathedrale sind unter anderem der fein gearbeitete, gotische Hauptaltar von 1520, die 2005 gebaute Orgel der Bautzener Orgelbaufirma Hermann Eule sowie zwei aus den 1960er Jahren stammende Werke des Hallenser Bildhauers Friedrich Schötschel – eine Figur des heiligen Sebastian und der Taufstein.