Rottenburger Dom St. Martin: Erst Marktkirche, dann Kathedrale
Im Vergleich zu den Kathedralkirchen anderer Bistümer und Erzbistümer in Deutschland wirkt der Rottenburger Dom St. Martin eher unscheinbar und bescheiden. Diese kleine schlichte Domkirche direkt am Marktplatz der 44.000-Einwohner-Stadt am Neckar mag verwundern, wenn man bedenkt, dass Rottenburg-Stuttgart die Diözese mit den viertmeisten Katholiken in Deutschland ist und auch die Domgemeinde in Rottenburg zu einer der größten des Landes zählt. Und doch passt der Dom zum noch jungen Bistum.
Dass Rottenburg überhaupt einen Dom hat, hängt mit der Auflösung des Bistums Konstanz Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen. So will der protestantische württembergische König eine eigene Diözese in seinem Königreich errichten, um auch in kirchlichen Dingen die Oberhand zu haben. Da im evangelisch geprägten Stuttgart mit der Stiftskirche bereits die protestantische Hauptkirche steht, ist an den Bau einer möglicherweise größeren katholischen Kathedrale hier aber nicht zu denken.
Der junge Dom stößt nicht überall auf Gegenliebe
Für das rund 50 Kilometer entfernte, katholisch geprägte Rottenburg sprechen zudem auch andere Gründe: "Rottenburg hatte viele kirchliche Gebäude, die leer standen: Das ehemalige Jesuitenkolleg konnte als Ordinariat und Wohnung des Bischofs genutzt werden, das ehemalige Karmeliterkloster als Priesterseminar", erklärt Dompfarrer Harald Kiebler. Ausschlaggebend ist auch die Nähe zum Universitätsstadt Tübingen, wo die zu gründende Katholisch-Theologische Fakultät in die dortige Universität eingegliedert wird. Am Veto des protestantischen Königs und an mangelnden finanziellen Mitteln scheitern aber auch in Rottenburg im Laufe der Jahrzehnte immer wieder aufkommende Pläne eines Domneubaus.
1821 wird das Bistum Rottenburg schließlich gegründet und 1828 die dortige Marktkirche St. Martin zur Kathedrale erhoben. Der noch junge Dom stößt aber nicht überall auf Gegenliebe. "Man muss wissen, dass Rottenburg damals eine Kleinstadt war. Da gab es noch Landwirtschaft und Misthäufen und Güllegruben vor der Haustür", sagt Kiebler.
Auch der erste residierende Bischof, Johann Baptist Keller, ist mit seiner neuen Kathedrale nicht einverstanden. In einer anonymen Flugschrift schreibt er: "Stößt sie nicht gegen die ersten Regeln der Symmetrie? Verdüstert sich nicht schon das Gemüth beim Eintritte? Ja, sie steht der gemeinsten Dorfkirche wenigst darin nach, dass ihr Vorderhaus – der Chor – völlig schief steht in der Richtung zum Langhause! Es bedarf keines Beweises, nur eines flüchtigen Blickes und geraden Urteils."
Die Asymmetrie, die Bischof Keller anspricht, findet man auch heute noch in der Kirche. Sie liegt an den unterschiedlichen Bauabschnitten des Gotteshauses. Der bis heute stehende älteste Teil des Doms – der Unterbau des Turms – stammt noch aus dem Jahr 1280. Ursprünglich gehörte er zu einer Liebfrauenkapelle. Die Hauptkirche Rottenburgs in dieser Zeit liegt vor den Toren der Kleinstadt: die Sülchenkirche, die heute als Grablege der Rottenburger Bischöfe dient.
Um diesen Turm herum entsteht ab 1424 durch gotische Erweiterungen die Marktkirche St. Martin. Aufgrund der Straßenverläufe und der Platzverhältnisse des Marktplatzes muss man das Langhaus allerdings versetzt anbauen. Der Chor liegt somit nicht in der Mittelachse der Kirchenschiffe, der Turm ragt in den Innenraum hinein. Ab 1486 wird dieser Turm überarbeitet und ein kunstvoller achteckiger Turmhelm aufgesetzt. Vorbild dafür könnte der Freiburger Münsterturm gewesen sein. Bis heute ist der 58 Meter hohe Turm Wahrzeichen der Stadt.
"Man wollte den Dom zu einem Dom machen"
1644 werden bei einem Großbrand über 500 Häuser in Rottenburg zerstört. Auch von der St.-Martins-Kirche bleiben lediglich der massive Turm und die Außenmauern übrig. Die Kirche wird wiederaufgebaut und prächtig ausgeschmückt. Die ausgebrannten schlanken gotischen Säulen der Kirche werden aber nicht ersetzt, sondern schlicht ummauert, um das Gewicht der Gewölbe tragen zu können. "Darum haben wir noch heute diese wahnsinnig massiven Säulen", so Kiebler.
Veränderungen gibt es in der Folgezeit vor allem im Innenraum. Die Kathedrale soll sich von anderen Pfarrkirchen abheben. "Man wollte den Dom zu einem Dom machen und ihn entsprechend ausschmücken", erklärt Kiebler. So wird das Gotteshaus mehrfach renoviert und an den jeweiligen Zeitgeschmack angepasst und ausgestattet: Von 1895 bis 1897 im Stil der Neugotik, von 1927 bis 1928 im Neubarock, von 1955 bis 1956 wird sie puristisch reduziert und von 1977 bis 1978 ein weiteres Mal neubarock umgestaltet. In Laufe der Zeit entsteht so auch ein Sammelsurium an Kunstgegenständen aus unterschiedlichen Stilepochen, das aus verschiedenen Kirchen zusammengeholt wird.
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Vor dem 175-jährigen Diözesanjubiläum 2003 entschließen sich Bischof, Domkapitel und die Domgemeinde zu einer weiteren grundlegenden Renovierung und Neugestaltung des Doms. Nötig geworden war dies auch durch bauliche Mängel. Es soll daher nicht nur bei einer optischen Auffrischung bleiben, die Umgestaltung hat sogar Einfluss auf die Architektur: Bisher nehmen viele den Turm im Kirchenraum als Fremdkörper wahr; nun wird die Wand zum Kirchenschiff hin durchbrochen und im Turm eine Sakramentskapelle errichtet. Der Altar wird vorgerückt und so der feiernden Gemeinde angenähert. Die Kathedra zieht in den Scheitelpunkt der Chorhalle. Überragt wird der Bischofsstuhl von der danebenstehenden Figur des heiligen Martin von Tours – bis heute nicht nur Patron des Doms, sondern der gesamten Diözese. Eine Zwischendecke wird in den Kirchenraum eingezogen, die Ausmalungen werden entfernt. Insgesamt soll der Dom heller, moderner und einheitlicher wirken.
Aber nicht alle barocken Einbauten werden entfernt: Der Marienaltar im nördlichen Seitenschiff etwa bleibt und zeugt noch von der Marienweihe der Diözese 1943 durch den Bekennerbischof Joannes Baptista Sproll. Auch das Passionsbild der Beweinung Christi aus dem 16. Jahrhundert und die Apostelfiguren auf den Pfeilersimsen oder das große Chorkreuz bleiben erhalten.
Nächstes Jubiläum liegt in greifbarer Nähe
Wichtig für die Renovierung sind insgesamt nicht etwa künstlerische Belange, sondern liturgische. Das ist es auch, was aus Sicht von Dompfarrer Kiebler den Rottenburger Dom auszeichnet: "Der Rottenburger Dom hat nicht die identitätsstiftende Funktion eines Kölner Doms oder eines Liebfrauendoms in München", sagt er. "Er ist mehr eine Pfarrkirche als eine Kathedrale."
Viele Veränderungen sind also im Rahmen von Bistumsjubiläen durchgeführt worden. So wurden 1978, zur 150-Jahr-Feier des Bistums, die Großstadt Stuttgart in den Namen der Diözese aufgenommen und die dortige St.-Eberhards-Kirche zur Konkathedrale erhoben. Und vielleicht wandelt sich das Erscheinungsbild des St.-Martins-Doms auch in den kommen Jahren noch einmal, denn das nächste Jubiläum des jungen Bistums liegt schon in greifbarer Nähe: 2028 wird die Diözese Rottenburg-Stuttgart 200 Jahre alt.