Essener Münster: Kulturelles Erbe des Ruhrpotts
Essener Dom oder Essener Münster? Ist seitens des Ruhrbistums meist vom Dom die Rede, pflegen die Ur-Essener, von ihrem Münster oder der Münsterkirche zu sprechen. Der Grund dafür: Die heutige Domkirche ist, zumindest in ihren ältesten Bauteilen, über 900 Jahre älter als das Bistum selbst.
851 wurde der heilige Altfrid Bischof von Hildesheim. Um diese Zeit gründete er zusammen mit Familienmitgliedern bei einem Gut ein Frauenstift. Es wird vermutet, dass Altfrids Schwester Gerswid die erste Äbtissin war. Die Wahl des Ortes ergab sich nicht zuletzt aus seiner günstigen Lage: Das neue Stift befand sich an der Grenze zwischen dem Gebiet der damaligen Franken und Sachsen und mit direkter Nähe zum Hellweg an einer wichtigen Handelsstraße. Als Oberhirte von Hildesheim hatte Altfrid eigentlich den Anspruch, sich dort bestatten zu lassen, zog es aber bewusst vor, in Essen zu ruhen; sein Grab befindet sich heute in der Altfridkrypta. "Damit sollte die Memoria, das Gebetsgedenken an die Stifter und ihre Familienmitglieder, sichergestellt werden.", erklärt Andrea Wegener, Leiterin des Domschatzes Essen und der Schatzkammer Werden. Über Generationen beteten die Stiftsfrauen für das Seelenheil der Stifter.
Die erste Kirche Altfrids war eine dreischiffige, einfach gehaltene Kirche. Vergleicht man ihre Ausmaße mit denen der heutigen Bischofskirche, hat sich nur wenig getan. 946 traf der erste Stiftsbrand das Gotteshaus besonders stark. Erste Reparaturen und Rekonstruktionen waren vorerst nur provisorisch, denn um das Jahr 1000 begann ein Neubau. Zu dieser Zeit waren im Heiligen Römischen Reich die Ottonen-Kaiser an der Macht. Während ihres Regiments erlebte das Stift eine besondere Blütezeit. Die erste ausführende Bauherrin war Äbtissin Mathilde, eine Enkeltochter Kaiser Ottos des Großen. Ihre Machtansprüche wollte sie mit dem Bau einer ottonischen Stiftskirche nach außen repräsentieren. Zeugnis davon ist bis heute der ottonische Westbau. "Im Inneren verweist die Säulenstellung als Zitat auf die Marienstiftskirche (Dom) Karls des Großen in Aachen. Nach außen hin zeigt die Dreiturmgruppe – ein mittlerer massiver Turm flankiert von zwei Treppentürmen – den Machtanspruch dieser Äbtissin und den hohen Rang des Stifts", so Wegener.
Gotischer Neubau besteht bis heute
Die zweite ottonische Äbtissin, Theophanu, führte vermutlich Mitte des elften Jahrhunderts die Bauten Mathildes weiter: Sie ließ eine Außenkrypta an die Stiftkirche anbauen, damals noch zweigeschossig. 1051 wird die Krypta, 1054 der Chor darüber geweiht. Heute hat sie den Namen "Altfridkrypta", denn jener ist in ihr bestattet; nach wie vor ist die Krypta so erhalten. Sie und der ottonische Westbau überstanden somit auch zwei im 13. Jahrhundert vermutete Brände im Jahr 1265 und 1275. Danach wurde ein gotischer Neubau errichtet, der bis heute besteht. Die gotische Hallenkirche – alle Schiffe sind gleich hoch – bindet die älteren Bauteile, den ottonischen Westbau und die ottonische Hallenkrypta mit ein – ein Zeichen der Kontinuität, auch um die Blütezeit des Stifts um 1000 zu würdigen. Der gotische Chorraum ist insofern bedeutend, als dass er die erste Chorhalle auf rechteckigem Grundriss ist, die auf deutschsprachigem Boden nachweisbar ist. Die Kirche hatte und hat somit einen Hallenraum, der hinten gerade abgeschnitten ist. Normalerweise haben Gotteshäuser im Osten eine halbrunde Apsis, in Essen ist der Chorabschluss rechteckig.
In ihrer weiteren Geschichte blieb die Stifts- und spätere Domkirche unverändert, lediglich die typische Barockisierung im 18. Jahrhundert sorgte für "frischen Wind". "Es gab eine massive Innenraumumgestaltung. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen." Wegener erzählt von einem riesigen barocken Hochaltar im Osten, der bis ins Gewölbe reichte, und prächtigen Seitenaltären. Reste aus dieser Zeit sind heute in der Domschatzkammer zu sehen. Einer der Seitenaltäre von damals wird nach wie vor in der vorgelagerten Kirche St. Johann genutzt, die sich direkt nebenan befindet und schon früher von der Essener Bevölkerung besucht wurde. Denn bis zur Auflösung des Stifts 1803 wurde die Stiftskirche ausschließlich vom Stift genutzt. Anders als bei vielen anderen Auflösungen von Gemeinschaften argumentierte man, dass die Schatzstücke weiterhin für die Liturgie gebraucht würden, um weiterhin die Messe feiern zu können – mit Erfolg. Seitdem wurde das Gotteshaus als Pfarrkirche genutzt – eben auch Münsterkirche genannt. Während der Säkularisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert schaffte man einige barocke Bestandteile heraus und schaffte in der neugotischen Phase etwa einen Altar.
Doch im zweiten Weltkrieg erlebte die Münsterkirche 1943 und 1945 ihre nächste Zerstörung. Wegen der Nähe zu "Waffenschmiede" Krupp traf es Essens Innenstadt und das Gotteshaus besonders hart. Vieles wurde ausgelagert, dennoch war der Schaden enorm groß. Zerstört wurde etwa das Gewölbe, der Chorraum, die Außenmauern und die Türme. "Man stand unter freiem Himmel", erklärt Wegener. Verschont blieben – mal wieder – der ottonische Westbau und die Krypta. Nach dem Krieg begann wie an so vielen Orten der Wiederaufbau. 1947 gründete sich dafür der "Münsterbauverein", den es bis heute unter diesem Namen als "Dombauverein" gibt.
Die Keimzelle der Stadt Essen
Mit Gründung des Bistums Essen zum 1. Januar 1958 wurde aus der Pfarr- eine Domkirche. Wieder einmal war es die Lage, die dem Gotteshaus zu dieser Beförderung verhalf. Jedoch hätte es in Essen eine weitere Möglichkeit gegeben: die Abteikirche in Werden, die sogar etwas größer ist. Andrea Wegener kann sich jedoch vorstellen, warum die frühere Münsterkirche besonders bedeutend war: "Sie ist die Keimzelle der heutigen Stadt Essen. Von diesem Frauenstift und seiner Gründung ist alles ausgegangen – von der Christianisierung bis hin zur Entstehung der Stadt. Alles ist ursprünglich auf diese Kirche zurückzuführen."
Mit der Ernennung zur Bischofskirche standen im Inneren einige Veränderungen an: Künstlerwettbewerbe für neue Fenster wurden ausgerufen, Bronzeportale ebnen den Weg ins Atrium, über das man in den Dom gelangt, stetige Renovierungsarbeiten gehören ebenfalls dazu. Betritt man heute den Dom, offenbart sich eine Architektur aus dem Mittelalter bis in die Moderne. "Das ist das Highlight, wenn man aus der wuseligen Einkaufsstraße in den Dom tritt; man kommt im Mittelalter an", so Wegener. Schnell bemerke man jedoch etwa die offensichtlich neuen Fenster. "Das ist eine sehr bunte, aber auch sehr harmonische Mischung."
Ein Gotteshaus mit so einer langen und bewegten Geschichte hat einige Schätze zu verwahren, darunter das wohl bedeutendste Kunstwerk des Ruhrgebiets: die sogenannte "Goldene Madonna", die älteste erhaltene vollplastische Marienfigur weltweit. Um 980 oder 990 wurde sie eigens für das Stift angefertigt. Ursprünglich handelt es sich um eine 74 Zentimeter hohe Holzskulptur, die mit feinem Goldblech überzogen sowie Edelsteinen sowie Emaillen verziert ist. Das Holz wurde in den vergangenen 120 Jahren bei Restaurierungen durch eine Masse ersetzt, um den Kern stabil zu halten. Nach Bemühungen des ersten Bischofs von Essen, Franz Hengsbach, ernannte Papst Johannes XXIII. sie 1959 unter dem Titel "Mutter vom guten Rat" zur Patronin des Ruhrbistums. Heute steht die "Goldene Madonna" in einer für sie geschaffenen Kapelle des Doms und ist ein wichtiges Gnadenbild, das Gläubige aufsuchen.
Ein weiterer bedeutsamer Schatz ist der siebenarmige Leuchter, der im Zentrum des Westbaus steht. Oft werde gefragt, warum ein jüdischer Leuchter im Dom stehe, erklärt Wegener und verweist auf den Tempelleuchter im Alten Testament, auf den auch das Christentum zurückgreift. Geschaffen wurde der Leuchter um 990 von Äbtissin Mathilde – ein Zeugnis der mittelalterlichen Blütezeit des Stifts. Heute kommt der 2,26 Meter hohe und 1,88 Meter breite Bronzeleuchter an großen Festtagen wie Weihnachten oder besonderen Ereignissen wie der Einführung eines neuen Bischofs zum Einsatz, indem die Kerzen angezündet werden.
"Das ist aber ein kleiner Dom"
Um den Dom selbst bietet sich Besuchern ein interessantes Ensemble. Kommen sie von der Einkaufsstraße, sehen sie zunächst die Anbetungskirche St. Johann, die mit einem Atrium am Dom angebunden ist. Das kann auch mal zur Verwirrung führen, erzählt Wegener: "Manche Leute stehen in St. Johann und sagen: 'Das ist aber ein kleiner Dom.'" Wesentlich größer ist der "echte" Dom aber nicht. Verglichen mit anderen Kathedralen ist das Essener Münster mit 56 Metern Länge und 22 Metern Breite recht klein – was dazu passt, dass das Bistum Essen die flächenmäßig kleinste Diözese in Deutschland ist.
Der Dom ist mit der angegliederten Verwaltung und der Domschatzkammer das Zentrum des Bistums Essen. Für die Essener selbst spielt dieser Umstand nicht die entscheidende Rolle. Für sie symbolisiert das Essener Münster den Ursprung und die Geschichte ihrer Stadt. Im Ruhrgebiet, das man vor allem mit Stahl und Kohle assoziiert, macht es sie umso stolzer, einen solchen kulturellen Schatz zu haben. Und wenn die Kirche auch noch eine Domkirche ist – umso besser.