"Sie ist für Deutschland gestorben"
Edith Stein war eine deutsche Philosophin, Ordensfrau und Märtyrin der katholischen Kirche. Als Katholikin jüdischer Abstammung wurde sie am 11. Oktober 1998 vom damaligen Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Am 9. August ist ihr Gedenktag.
Frage: Frau Gerl-Falkovitz, der 9. August ist der Gedenktag für Edith Stein, woran denken Sie?
Gerl-Falkovitz: Es war ein schwarzer Tag, als am 9. August 1942 neun Nonnen im Habit in Auschwitz-Birkenau ankamen und sofort in der dortigen Gaskammer vergast wurden. Edith Stein war eine von ihnen. Von außen betrachtet war diese Szene die Endstation. Aber wenn man den anfänglich erfolgreichen Lebensweg und die Schriften Edith Steins kennt, dann hellt sich das Bild ein wenig auf. Ich weiß, es ist kühn so etwas zu sagen, denn keiner von uns hat je eine so brutale Gewalt erleiden müssen. Aber Edith Stein ging nicht mit Verzweiflung in ihr Schicksal hinein oder hat gar mit Hass darauf reagiert. Im Gegenteil.
Frage: Woran machen Sie das fest?
Gerl-Falkovitz: Es gibt einen Ausspruch von Edith Stein, der ihre tiefste Absicht zeigt. Bei ihrem Abtransport soll sie zu ihrer leiblichen Schwester Rosa gesagt haben: "Komm, wir gehen für unser Volk." Welches Volk meinte sie, das jüdische oder auch das deutsche? Beides passt zu ihr, denn der Gedanke der Stellvertretung prägte ihr ganzes Leben. Das kann man in ihrem geistlichen Testament vom Juni 1939 nachlesen. Damals wusste Edith Stein noch nichts von ihrem grausamen Tod in Auschwitz. Sie schreibt in diesem Testament ausdrücklich, sie wolle ihr Leben als Sühne unter anderem für Deutschland hingeben, und bietet ihr Leben stellvertretend für den Frieden an. So ist Edith Stein auch für Deutschland gestorben, worüber erstaunlicherweise nichts gesprochen wird. Ihren Lebensweg deutete sie schon beim Eintritt in den Kölner Karmel als Kreuzweg. Daher trug sie auch den Ordensnamen Teresia Benedicta vom Kreuz.
Frage: Im Jahr 1987 bei der Seligsprechung Edith Steins wurden auch Gegenstimmen laut, die von einer Vereinnahmung der konvertierten Jüdin Edith Steins in den katholischen Himmel sprechen. Wie sehen Sie das?
Gerl-Falkovitz: In der Tat hat die Seligsprechung Edith Steins im Mai 1987 in Köln großen Wirbel ausgelöst - auch von jüdischer Seite. Papst Johannes Paul II. machte allerdings einen klugen Schachzug. Er schickte Kardinal Jean-Marie Lustiger, damals Erzbischof von Paris, zum Gespräch mit dem Jüdischen Weltbund in den USA. Lustiger selbst war als Jude zum Katholizismus konvertiert. Sein Auftreten in dem Streit hat die Stimmung günstig beeinflusst. Bei der Heiligsprechung Edith Steins 1998 dann war der Trubel nicht mehr so groß. Damit ist Edith Stein die erste Jüdin in der neueren Kirchengeschichte, die heiliggesprochen wurde; das II. Vatikanische Konzil hat ja ausdrücklich die Versöhnung mit dem Judentum angestrebt. Und 1999 wurde Edith Stein zusammen mit Birgitta von Schweden und Caterina von Siena zur Mitpatronin Europas erklärt.
Frage: War die Heiligsprechung nicht auch eine Ablenkung von der Abweisung Edith Steins durch Papst Pius XI.?
Gerl-Falkovitz: Im April 1933 hatte Edith Stein ein Schreiben an Papst Pius XI. gerichtet und eine Enzyklika zur Judenverfolgung anzuregen versucht. Der Papst hatte ihr damals nicht geantwortet, nur Jahre später seinen Segen geschickt. Allerdings: Der Nationalsozialismus war damals erst zwei Monate an der Macht. Man konnte also noch nicht wissen, wohin die Reise gehen würde. Der Papst bereitete zu der Zeit auch ein Konkordat zum Schutz katholischer Einrichtungen vor. Es gab gute Verbindungen von Rom nach Deutschland, der Papst wusste also durchaus, was lief, aber die Absicht des Massenmordes war zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht zu erkennen. Im Nachhinein kann man es leicht besser wissen, aber in der Tat, die Enzyklika "Mit brennender Sorge" kam erst 1937, also spät.
Frage: Viele Ordensleute wurden damals ermordet. Warum wurden sie nicht auch heiliggesprochen wie Edith Stein?
Gerl-Falkovitz: Grundsätzlich kann man sagen, dass alle Weggefährten Edith Steins, die in der Grundhaltung des Martyriums in den Tod gegangen sind, Heilige sind - heilig aufgrund ihres erlittenen Martyriums, auch ohne Heiligsprechung. Es gab zum Beispiel in Köln die Kinderärztin Lisamaria Meirowsky, die auch in Auschwitz starb und ihr Leben für Christus hingab, ganz ähnlich wie Edith Stein. Aber die Kirche kann niemanden heiligsprechen, ohne umfassend auch vom sonstigen Leben des Betreffenden zu wissen. Von Edith Stein weiß man, dass sie nach ihrer Konversion und Taufe im Jahr 1922 ein heiligmäßiges Leben geführt hat. Schon als Lehrerin bei den Dominikanerinnen in Speyer fiel sie durch ihr intensives Gebetsleben auf. Ihr Leben war geprägt von einer unglaublichen Nähe zu Jesus Christus. Sie verbrachte manche Nacht in der Kirche vor dem Tabernakel. Nach ihrem Eintritt in den Kölner Karmel vertiefte sie ihre Beziehung zu Christus immer mehr. Wir wissen aus vielen Briefen an ihre Mitschwestern und aus verschiedenen Aufzeichnungen, wie tief sie ihren Glauben gelebt hat.
Frage: Ist Edith Stein auch als Frau ein Vorbild?
Gerl-Falkovitz: Ja, sie kämpfte für die Rechte von Frauen. Schon um 1910 in der Schule galt die Gymnasiastin als emanzipiert. Sie setzte sich 1919 erfolgreich für das Wahlrecht der Frauen in Deutschland ein. Auch erklärte sie, jede Frau solle einen Beruf erlernen, je nach Begabung, als Künstlerin, Lehrerin oder im Handwerk. Edith Stein ging es dabei um die Begabung jedes Einzelnen, denn sie trennte in ihrem Denken nicht nach dem Geschlecht. Christus, sagte sie, habe beide Geschlechter berufen, Mann und Frau, ihm auf vielfältige Weise zu dienen. In ihrem Denken war Edith Stein unvoreingenommen, nüchtern und frei. Das gefällt mir an ihr.
Frage: Finden sich in ihren Werken auch männliche und weibliche Gottesbilder?
Gerl-Falkovitz: Gott ist für sie in drei Personen gegenwärtig, aber sie denkt da nicht in Kategorien wie männlich oder weiblich. Jesus ist als Mann zur Welt gekommen, das ist eindeutig, aber die Nähe zu Christus hebt jeden über Mannsein und Frausein hinaus. Beeindruckend finde ich, welcher Glaubensmut aus ihren Texten spricht, etwa aus dem Lied "Erhör, o Gott, mein Flehen" unter der Nummer 439 im neuen Gotteslob. Hier heißt es: "Du bist gleich einem Turme, den nie der Feind bezwang. Ich weiche keinem Sturme, bei dir ist mir nicht bang. In deinem Zelt bewahren willst du mich immerdar, mich hütet vor Gefahren dein schirmend Flügelpaar." Wie tröstlich das klingt, wenn man weiß, welch schrecklichen Tod sie sterben musste.
Frage: Welche persönliche Nähe haben Sie zu Edith Stein?
Gerl-Falkovitz: Ich habe nie überlegt, etwa in den Karmel einzutreten, aber ihre Klarheit im Denken finde ich anziehend. Sie machte im Denken keinen Halt vor verwickelten Fragen. Als "Kollegin" fühle ich mich mit ihr, der großen Philosophin, sowieso sehr verbunden. In meinen Seminaren an der Universität habe ich immer wieder ihre Themen aufgegriffen. An eine Begebenheit erinnere ich mich gerne. In Dresden hatte ich mit Studierenden Edith Steins Texte gelesen. Es ging um die Frage nach der eigenen Seele und dem "Gemüt". Wir näherten uns Stück für Stück ihren Gedanken, bis wir zu der Frage kamen: Woher stamme ich eigentlich? Wer setzte mich ins Leben? Eine Studentin, die zuvor von Glaube und Kirche nichts wußte, hat sich im Anschluss an das Seminar später taufen lassen. Die Begegnung mit Edith Steins Texten hat sie begleitet. Das hat mich sehr berührt.
Frage: Sie befassen sich viel mit Edith Steins Werken. Was beeindruckt Sie da?
Gerl-Falkovitz: Gegenwärtig arbeiten wir an einem Lexikon über philosophische Begriffe in ihren Werken. Dabei beziehen wir ihre großen Arbeiten bis zur Kreuzeswissenschaft und ihrer mystischen Theorie, aber auch ihre Briefe ein. Dabei fällt auf, mit welcher Klarheit und gleichzeitigen Wärme sie über Gott spricht. Es ist vermutlich genau diese Kombination, die andere anzieht.
Frage: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Gerl-Falkovitz: Ihre Nähe zu Gott offenbart sich vor allem in ihren persönlichen Gebeten, in denen sie Gott mit "Du" anspricht. Gerne erteilt sie hilfreiche Ratschläge an Mitschwestern und Freunde, was das Gebetsleben betrifft. Einmal hatte sich eine Mitschwester mit einer drängenden Bitte an sie gewandt: Sie habe einen Artikel gelesen, worin der Glaube, Jesus Christus sei im eucharistischen Brot und Wein anwesend, als Aberglaube bezeichnet wurde. Edith Stein antwortet ihr nüchtern und gleichzeitig wunderbar: "Wie kannst du, die den Herrn in der heiligen Kommunion so oft empfangen hat, daran zweifeln, dass er wahrhaftig anwesend ist? Hast du nicht empfunden, dass er da ist? Wie kannst du jemanden vertrauen, der das gar nicht kennt und nur aus der Distanz darüber schreibt? Denk doch daran, wie du es selbst erfahren hast." Diese Antwort ist doch großartig, oder? Edith Stein wischt alle Zweifel einfach weg.
Frage: Gibt es noch Verwandte von Edith Stein, zu denen Sie Kontakt haben?
Gerl-Falkovitz: Mit ihrer Nichte Susanne Batzdorff in Kalifornien bin ich in Kontakt. Sie ist über 90 Jahre alt und kam früher immer wieder nach Deutschland. Zuletzt haben wir uns in Hannover bei der Weltausstellung 2000 gesehen. Wir schreiben uns auch hin und wieder. Sie hat mich zu meiner Arbeit über Edith Stein beglückwünscht; das hat mir gut getan. Als sie mich bat, ein Vorwort zu ihrem Buch über ihre Tante Edith Stein zu schreiben, war ich sehr gerne bereit.
Frage: Welchen Eindruck haben Sie: Ist Susanne Batzdorff mit dem Schicksal ihrer Tante heute versöhnt?
Gerl-Falkovitz: Das würde ich nicht wagen zu behaupten. Susanne Batzdorff hat sechs Familienmitglieder in den Konzentrationslagern verloren. Sie hat die Stätten besucht und daraufhin ein Buch geschrieben, vielleicht auch, um das Grauen zu überwinden. Das Buch ist von einer großen Trauer geprägt. Was ich versöhnlich finde: Susanne Batzdorff spricht bis heute deutsch. Und ihr schlesisches Heimatland hat sie nie vergessen.