Das Magnificat eines Atheisten
Auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch antwortete der Atheist Bertolt Brecht zeitlebens: die Bibel. Immer wieder ließ er sich von Stoffen aus dem Alten und Neuen Testament inspirieren. So auch in diesem Gedicht. Einer handschriftlichen Notiz Brechts lässt sich entnehmen, dass es "Weihnachten 1922" entstanden ist.
Der schlichte Titel "Maria" lässt ein Liebesgedicht erwarten. Für einen Text über die Gottesmutter war das damals unerhört. Ebenso, wie die Verse, die danach kommen. Brecht entmythologisiert die Heiligabend-Idylle in Bethlehem und stellt sie als Verklärung armseliger Umstände dar. In den ersten vier reimlosen Strophen in unregelmäßigem Rhythmus kontrastiert er sie mit der historischen Realität, wie er sie sah: Statt frommer Andacht, "Würgen der Nachgeburt" und "bittere Scham", statt Engelsgesang, "Wind, der sehr kalt war", statt Stern von Bethlehem ein Loch im Dach. Im Typoskript war ursprünglich sogar noch von "Ochsenpissengeruch" die Rede. Doch dieses Wort wurde offenbar von der Redaktion des "Berliner Börsenkuriers" gestrichen, der das Gedicht erstmals veröffentlichte. Dennoch brachte das Gedicht Brecht 1926 eine Anzeige wegen "Gotteslästerung" ein, die ein Berliner Gericht allerdings abwies.
Der sprachliche Duktus des Gedichts steht in auffallendem Gegensatz zu seinem Inhalt. Liest man die Verse laut, dann klingen sie ernst, gewichtig, fast pathetisch, von Ironie oder Zynismus keine Spur. Einige Interpreten sprechen gar von einem biblischen Ton. Und auffallend ist auch, dass Brecht Maria und Jesus sehr respektvoll behandelt, beinahe scheu. Er dekonstruiert die Rede von der gebenedeiten Jungfrau, aber macht aus Maria keine Mutter Courage. Der Literaturwissenschaftler Jan Knopf schreibt sogar, der Text klinge wie "eine Hymne auf Maria und ihren Sohn". Und wenn Brecht von Jesus spricht, benutzt er die Wendung "vom Gesicht ihres Sohnes", so als wolle er Jesu Geheimnis wahren.