"Son Christfest is doch ooch janz scheen!"
"Großstadt-Weihnachten" von Kurt Tucholsky
Nun senkt sich wieder auf die heim'schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
"Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!"
Und frohgelaunt spricht er vom 'Weihnachtswetter',
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden ...
"Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug."
Gutbürgerlich und sattgefuttert
Der Asphalt glitscht, der Bürger ist voll Karpfen: So vor derber Lebenskraft strotzend wie in Kurt Tucholskys Gedicht "Großstadt-Weihnachten" senkt sich sonst selten die poetische "Weihenacht" auf ihre Leser. Wunderbar, wie der Journalist und Schriftsteller mit seiner lebendigen Sprache eine gutbürgerlich-sattgefutterte, unbekümmerte Weihnachtsszenerie malt, in der sich die Protagonisten selig in ihre Selbstzufriedenheit eingekuschelt haben.
Erst in der letzten Strophe enttarnt er die heimelige Wohlfühlwelt als Theaterstück – der letzte Vers, ein Zitat aus Artur Schnitzlers "Paracelsus", zeigt: Der Weihnachtsfriede ist bloß gespielt und alle machen mit; nur die Klugen durchschauen es. Dass die Schneekugel-Idylle an allen Ecken und Enden nicht hinreicht – das Christkind ist zum Tausch unpassender Geschenke bereit, das Grammophon still und heilig und für's Weihnachtswetter muss es nicht mal schneien – entgeht in der Tat auch dem unaufmerksamen Leser schnell. Besonders schön an dem abschließenden "Paracelsus"-Zitat ist, dass dieses Theaterstück ebenfalls von Wahrheit und Schein handelt – einer dieser literarischen Verweise des belesenen Tucholskys, die seine Texte so großartig vielschichtig und hintersinnig machen.
Aber nicht nur das: Tucholsky beobachtete mit scharfem Verstand die Eigenheiten seiner Mitmenschen und sezierte die Gesellschaft seiner Zeit. Das macht das Gedicht faszinierend aktuell, obwohl es schon über 100 Jahre alt ist. Es erschien in der Zeitschrift "Schaubühne" vom 25. Dezember 1913 unter dem Pseudonym "Theobald Tiger".