Mit 24 Gedichten durch den Advent

"Fern im Osten wird es helle"

Veröffentlicht am 19.12.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Dossier: Adventskalender

Bonn ‐ "Fern im Osten wird es helle" von Novalis ist ein ungewöhnliches Werk über die Geburt Christi: Ein Weihnachtsgedicht mit Frühlingsvokabular. Fromm, innig und überschwänglich.

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Fern im Osten wird es helle (Novalis)

Fern im Osten wird es helle,
Graue Zeiten werden jung;
Aus der lichten Farbenquelle
Einen langen tiefen Trunk!
Alter Sehnsucht heilige Gewährung,
Süße Lieb in göttlicher Verklärung.

Endlich kommt zur Erde nieder
Aller Himmel selges Kind,
Schaffend im Gesang weht wieder
Um die Erde Lebenswind,
Weht zu neuen ewig lichten Flammen
Längst verstiebte Funken hier zusammen.

Überall entspringt aus Grüften
Neues Leben, neues Blut;
Ewgen Frieden uns zu stiften
Taucht Er in die Lebensflut;
Steht mit vollen Händen in der Mitte,
Liebevoll gewärtig jeder Bitte.

Lasse seine milden Blicke
Tief in deine Seele gehn,
Und von seinem ewgen Blicke
Sollst du dich ergriffen sehn.
Alle Herzen, Geister und die Sinnen
Werden einen neuen Tag beginnen.

Greife dreist nach seinen Händen,
Präge dir sein Antlitz ein,
Musst dich immer nach Ihm wenden,
Blüte nach dem Sonnenschein;
Wirst du nur dein ganzes Herz Ihm zeigen,
Bleibt Er wie ein treues Weib dir eigen.

Unser ist sie nun geworden
Gottheit, die uns oft erschreckt,
Hat im Süden und im Norden
Himmelskeime rasch geweckt,
Und so lass im vollen Gottesgarten
Treu uns jede Knosp und Blüte warten.

Bild: ©Fotolia.com/a2l

Ja, Novalis' Gedicht ist für den heutigen Geschmack bisweilen an der Grenze zum Schwülstigen und Gekünstelten. Es klingt so, als ob ein Intellektueller, der zu viel Homer gelesen hat, seinen Glauben aus Kindertagen noch einmal aufwärmt. Doch das alles ändert nichts daran: Diese Verse von Friedrich von Hardenberg (1772-1801), der den Künstlernamen Novalis wählte, sind immer noch schön und faszinierend. Man muss sie sich laut vorsprechen und auf der Zunge zergehen lassen: Ein Weihnachtsgedicht mit Frühlingsvokabular.

Von Thomas Jansen