Der letzte Trost
Des fremden Kindes heiliger Christ (Friedrich Rückert)
Es läuft ein fremdes Kind
Am Abend vor Weihnachten
Durch eine Stadt geschwind,
Die Lichter zu betrachten,
Die angezündet sind.
Es steht vor jedem Haus
Und sieht die hellen Räume,
Die drinnen schaun heraus,
Die lampenvollen Bäume;
Weh wird's ihm überaus.
Das Kindlein weint und spricht:
"Ein jedes Kind hat heute
Ein Bäumchen und ein Licht
Und hat dran seine Freude,
Nur bloß ich armes nicht.
An der Geschwister Hand,
Als ich daheim gesessen,
Hat es mir auch gebrannt;
Doch hier bin ich vergessen,
In diesem fremden Land.
Läßt mich denn niemand ein
Und gönnt mir auch ein Fleckchen?
In all den Häuserreihn
Ist denn für mich kein Eckchen,
Und wär' es noch so klein?
Läßt mich denn niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben;
Ich will ja nur am Schein
Der fremden Weihnachtsgaben
Mich laben ganz allein."
(gekürzt)
Der letzte Trost
Friedrich Rückert, Dichter aus meiner Geburtsstadt Schweinfurt – vielleicht der größte Sohn der Stadt – schreibt ein Weihnachtsgedicht, das nicht so leicht zu verdauen ist. Da wird der Gegensatz aufgemacht zwischen denen die dabei sind, drin sind, mitmachen – und denen, die außen vor bleiben, draußen, in der Kälte, im Dunkeln. Rückert bleibt nicht abstrakt und theoretisch, sondern schreibt von dem, was die meisten Menschen tief am Herzen rührt: von einem Kind. Einem fremden Kind. Einem Kind, das dabei sein will, aber doch außen vor bleibt.
Das, was für viele so selbstverständliches Glück ist, ist für das fremde Kind höchstersehnt, unwirklich, unerreichbar. Und am Ende, ja, das Ende mag mir nicht gefallen, am Ende dreht Rückert es so: Im Himmel, beim Christkind, da wird das Kind Wärme und Liebe finden, da sitzt es am Baum und wird beschert. Und hier auf Erden? Hier ist es erfroren.
Wie grauenvoll. Und doch: Die letzte Hoffnung, die Hoffnung aufs Jenseits. Für Friedrich Rückert, dem zwei seiner Kinder im kalten Winter 1833/34 am Scharlach gestorben sind und der die herzzerreißenden "Kindertodtenlieder" schrieb, ist das vielleicht auch ein ganz persönlicher letzter Trost. Er sei, schreibt er einmal, der Welt abhanden gekommen. Und wenn er vergebens auf die Heimkehr der dreijährigen Luise, des vierjährigen Ernst wartet – "Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen, / Bald werden sie wieder nach Hause gelangen." – dann lindert den Schmerz vielleicht der Gedanke daran, dass die geliebten Kinder im Himmel beim Christkind sitzen.
Trösten mag uns das Jenseits. Aber es darf keine Entschuldigung sein für die Missstände im Diesseits. Das Reich Gottes, das ist nichts Jenseitiges. Es bricht hier und heute an. Mit einem Kind im Stall. Mit einem guten Wort. Mit einer guten Tat. Und deshalb: Nein, mir kann der Schluss nicht gefallen. Im Gegenteil: Er tut mir weh. Alles in mir ruft: Ihr Menschen hier und jetzt, auf der Erde, hier unten! Helft dem Kind! Bittet es herein an Euren Herd, an Euren Baum, an Eure Herzen. Ich will die Perspektive wechseln und nicht über das Kind schreiben, sondern über diejenigen, die drinnen im Warmen sitzen und das Kind nicht bemerken, nicht bemerken wollen vielleicht. Sind wir diese Menschen?