"Wie dein Urteil fällt, so fall’ es"
"Am ersten Sonntage des Advent" von Clemens Brentano
Luk. 21,25
Wie der Sommer folgt der Blüte,
Folgt den Zeichen das Gericht,
Spricht ermahnend heut in Güte,
Der dann strenges Urteil spricht.
Merk! der Heiland nennt die Zeichen,
Die vor dem Gericht ergehn,
Daß geheilet, ohn’ Erbleichen
Wir den Richter kommen sehn.
Wie dein Urteil fällt, so fall’ es,
Herr! nur deine Gnade gieb,
Daß ich Gott stets über alles,
Wie mich selbst den Nächsten lieb’.
Meine Schuld will ich bereuen,
Stark durchs heil’ge Sakrament,
Dann mich meines Richters freuen,
Der die Seinen selig nennt.
Zu schwärmerisch, zu konventionell, zu konservativ?
Clemens Brentanos (1778-1842) Gedichtzyklus "Die sonntäglichen Evangelien" hat nicht den besten Ruf in der Literaturwissenschaft: zu schwärmerisch, zu konventionell, zu konservativ, zuviel Restauration, zu wenig Vormärz.
Und in der Tat: Der katholische Brentano um 1820 will all das sein. Ein zentrales Motiv seiner Rückbesinnung auf den Glauben seiner Kindheit ist das Kindliche: "Poesie, die Schminkerin/Nahm mir Glauben, Hoffen, Beten", heißt es in einem anderen Gedicht dieser Phase seines Werks. Dagegen stellt er ein Ritual seiner Kinderzeit: "Nur ein Schild blieb unbewußt/Mir noch aus der Unschuld Tagen/Heil'ge Kunst auf Stirn und Brust/Ein katholisch Kreuz zu schlagen."
Und in einem anderen Werk, der "Ermunterung zur Kinderliebe und zum Kindersinne", das viel mehr ein adventliches Gedicht ist als das zum ersten Advent, steht das Wort Kind nicht nur zweimal in der Überschrift, sondern in 119 Zeilen ganze 78mal.
In diesem Kinderglauben ist auch das Gedicht zum ersten Adventssonntag verfasst, das auf den ersten Blick – bis auf die Überschrift – gar nichts mit dem Advent zu tun hat. "Lukas 21,25" lautet der Untertitel, und die Perikope vom Kommen des Menschensohns – wie sie in der Einheitsübersetzung überschrieben ist – wird kaum mehr als nacherzählt. Diese Stelle ist auch nach der heutigen Leseordnung alle drei Jahre das Evangelium vom ersten Adventssonntag, wenn das Lesejahr C Lukas vorsieht.
Der Germanist Nicholas Saul nennt die Perikopengedichte Brentanos "zwanghaft produzierte stumme Verkündigung", er spricht von dessen "zwanghaftem Bedürfnis, gleichzeitig zu sprechen und zu schweigen", da er kaum mehr tut, als die Schrift in seine ihm eigene Sprache und Form zu bringen.
Dass die Form streng, ja zwanghaft, aber wenig originell ist, kann man Brentano vorwerfen. Doch es hat Methode, und es stärkt seine Aussageabsicht: Poesie, "die Schminkerin", soll nicht das Existentielle der Schrift übertünchen, erst recht nicht, wenn es um Fragen von Leben und Tod, von Erlösung und Verwerfung geht wie in diesem Gedicht. Die Nacherzählung im eingängigen Rhythmus – durchweg vierhebige Trochäen, vier vierzeilige Strophen mit Kreuzreimen, streng abwechselnd weibliche und männliche Kadenzen – wirkt feierlich und ernst.
Und gleichzeitig ist da eben doch etwas über den Evangelientext hinaus: Die ersten beiden Strophen geben noch die Perikope wieder, die beiden schließenden sprechen von der kindlichen Frömmigkeit, die Brentanos Glauben prägen (die Identifikation des Autors mit dem lyrischen Ich ist bei diesem Gedicht wohl zulässig), das Gottvertrauen und die Gottesfurcht: "Wie dein Urteil fällt, so fall’ es,/Herr! nur deine Gnade gieb." "Richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe", heißt es bei Lukas: Das tut Brentano in diesem Gedicht, und deshalb ist es ein adventliches: auf die Wiederkunft des Herrn ausgerichtet.