"Streckt sie die Zweige hin – bereit"
"Advent" von Rainer Maria Rilke
Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird;
Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit.
Fühlen wir uns ertappt?
Kitschig und klischeehaft sind wohl die Attribute, die bei Rilkes Gedicht sofort in den Sinn kommen. Und irgendwie auch wundervoll. Wie schön es wäre: Schneeflocken im Wind, verschneite Tannen, die nur auf Weihnachten warten. Die Tanne symbolisiert diese Hoffnung der Menschen: eine stille und andächtige Adventszeit, das wär's.
Danke Rilke, möchte man sagen. Steht dieses Gedicht doch im krassen Gegensatz zur Realität. Da stehen wir nämlich höchstens im Schneematsch auf dem Weihnachtsmärkten während uns der singende Elch an der Glühweinbude etwas von "Merry christmas" ins Ohr grölt. Oder laufen gehetzt mit der halben Stadt durch überfüllte Geschäfte. Advent als Zeit der Vorbereitung auf die Ankunft des Herrn? Fehlanzeige. Das fromme Warten auf diese eine Nacht, dieses Weihnachtswunder, bleibt mehr ein illusioniertes Bild, das Rilke uns aufmalt.
120 Jahre nach der Entstehung dieses Gedichtes präsentiert trifft uns Rilke mit diesem Gedicht. Statt andächtig und besinnlich zu sein fühlen wir uns durch die vermeintlich weichen Worte ertappt. Er erhebt damit indirekt einen moralischen Zeigefinger. Legt ihn in die Wunde. Wir lauschen nicht hinaus. Wir wachsen dem Weihnachtsfest höchstens mit Hamsterkäufen entgegen. Die eine Nacht der Herrlichkeit fungiert als pittoresk kitschiges Familienfest der Liebe. Natürlich ist das Weihnachten. Aber nicht nur.
Vielleicht nehmen wir dieses Gedicht zum Anlass, uns wirklich auf den Sinn des Weihnachtsfestes vorzubereiten: Gott wird Mensch. Neben all der Hektik und dem Stress nehmen wir uns Zeit und machen uns wirklich bereit.