Das Warten auf das Weihnachten einer neuen Menschwerdung
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Schon in den 1990er Jahren hat das US-Militär seine strategische Weltsicht verändert und auf VUKA umgestellt – ein treffsicheres Akronym, das sich aus den Adjektiven volatil, unsicher, komplex und ambivalent zusammensetzt. Unser Leben ist also von plötzlich auftauchenden Herausforderungen geprägt ("V"), von instabilen Gesamtverhältnissen ("U"), von abertausend Handlungsoptionen ("K") und von mannigfachen Uneindeutigkeiten ("A"). Kurz gesagt: Wir fahren heute alle 'auf Sicht'.
Dieses kollektive Lebensgefühl, auf schwankendem Grund zu stehen und ohne klare Sicht dennoch handeln zu müssen, lässt sich in einem Wort zusammenfassen, das der mexikanische Heideggerschüler Emilio Uranga in die Debatte brachte: Zozobra. Gemeint ist ein ständiges "wobbling and toggling" (F. Gallegos, C. A. Sanchez) der menschlichen Existenz – oder anders gesagt: radikale Kontingenz.
Was abstrakt klingt, ist alltägliche Erfahrung: Kontingenz heißt, so Niklas Luhmann, dass alles immer auch ganz anders sein kann. Wir sind mit Freundinnen und Freunden verabredet – aber es kann ein Lockdown dazwischenkommen. Oder schlimmer noch: eine Corona-Infektion. Und die kann in vielen Fällen dann eher mild verlaufen – oder aber auch ganz anders. Es kann auch bei jüngeren Menschen schwere Verläufe geben. Und niemand weiß, ob es sie oder ihn erwischt. Radikale Kontingenz eben.
Zeichen der Zeit, die sich im Licht des Evangeliums "signalresonant" (M. Strolz) deuten lassen. Wir befinden uns gerade in einem "langen Advent des Wartens" (M. Schüßler): auf ein baldiges Ende des Lockdown und auf den nächsten Sommer, auf bessere Zahlen und bessere Zeiten – und genau darin auch des Wartens auf das Weihnachten einer neuen Menschwerdung in alter physischer Nähe.
Auch in dieser Zeit vermissenden Wartens ist spürbar, was die Poesie immer schon wusste: Das Herz der Menschen ist "ein kleiner Stern, der die Erde beleuchtet" (R. Ausländer). Dieser so besondere Advent kann helfen, das "Wort der Propheten" (2 Petr 1,19) auf unsere unsichere Situation hin neu zu lesen als ein schwaches, aber verlässliches "Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen" (2 Petr 1,19).
Der Autor
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie.
Hinweis
Die Texte erscheinen in Kooperation mit dem kulturellem Diakonieprojekt "Denkbares.